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■ Schröder wird Bundeskanzler, weil er für das gleiche steht wie früher Helmut Kohl: Arbeit, Materialismus, Wohlstand. Und die Grünen?Die Renaissance der Arbeitsgesellschaft

I.

Erdrutschartige Siege haben den Vorteil, von genauer Analyse zu entlasten. Wenn überall, in allen Milieus und in allen Schichten die gleichen Parteien verlieren oder gewinnen, liegt die Vermutung nahe, daß dem ein gemeinsames Motiv zugrunde liegt. Das triviale Motiv dieser Wahl ist bekannt: Neue Besen kehren besser. Ein anderes Motiv ist aufschlußreicher: der Wunsch nach Glück, oder bescheidener: nach Sicherheit, Zufriedenheit und damit: einem Arbeitsplatz. Diese Ausgangslage ist für den grünen Koalitionspartner nicht nur seiner quantitativen Schwäche wegen problematisch.

Die Bündnisgrünen greifen in einem Augenblick nach der Macht, in dem sich die Deutschen mehr denn je für sich selbst und ihre materialistischen Utopien entschieden haben. Politiker wie einst Kohl und jetzt Schröder verdanken Aufstieg und Erfolg ihrer glaubwürdigen Durchschnittlichkeit sowie dem Eindruck, Fleisch vom Fleisch der kleinen Leute zu sein. Vor allem nämlich hat die Wählerschaft einen Kanzler in Pension geschickt, der sich von ihrem Alltag abgewandt und in die Geschichte, nach Europa verabschiedet hat. Kohl hatte schließlich eher historischen Ruhm im Sinn als das Huhn im Suppentopf.

In Gerhard Schröder, der die Trennung von Ehefrau Hillu mit deren vegetarischer Küche begründet und sich in einem Buch gesucht über Rotweine verbreitet hat, findet der Materialismus des Alltags seine neue Projektionsfläche. Im wiederholten Bekenntnis zum Auto schürt Schröder den massenhaften Tagtraum kleiner Fluchten und technischer Verfügungsgewalt – Fragment einer Utopie. Erdrutschartige Siege erlauben starke Verallgemeinerungen: Zwar existiert zum ersten Mal seit 1945 in Deutschland eine politische und gesellschaftliche Mehrheit für die Linke. SPD, Grüne und PDS haben zusammen deutlich mehr als 50 Prozent aller Stimmen erhalten; eine klare Mehrheit von 53 Prozent aller Wähler spricht sich in Umfragen nach der Wahl sogar für eine rot-grüne Koalition aus. Aber: Diese Linke wird, jedenfalls in Westdeutschland, von Gruppen gestellt, die in wesentlichen Hinsichten nichts miteinander zu tun haben.

II.

Die Soziologie des Wertewandels, die noch zu Beginn des Jahrzehnts die Stichworte vorgab, mußte der Individualisierungstheorie weichen, ohne daß ihre Sache damit erledigt ist. In der künftigen rot- grünen Koalition tun sich – politisch wie gesellschaftlich – große Mehrheiten von glückshungrigen Materialisten mit einer Minderheit von ruhmesdurstigen Postmaterialisten zusammen. Dort koalieren Pils- und Rotweintrinker mit Sprudelwasserschluckern und treffen Gewerkschafter, die an sicheren Arbeitsplätzen interessiert sind, auf sozial Bewegte, die die Ansprüche künftiger Generationen und von Menschen ohne deutschen Paß vertreten wollen. Daß sie diese Interessen von gesicherten Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst aus wahrnehmen, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Nur wo die unmittelbare Not des Lebens nachläßt, weitet sich der Blick.

Niemand hat das metapolitische Problem eines Bündnisses von Materialisten und Postmaterialisten schärfer gesehen als Bert Brecht: „Ich find, da ist was dran“, heißt es in den „Flüchtlingsgesprächen“, „daß der sogenannte Materialismus in den besseren Kreisen in Verruf ist, man spricht gern von niedrigen materiellen Genüssen und rät den untern Klassen ab, sich ihnen in die Arme zu werfen... Ich hab mich oft gefragt, warum die linken Schriftsteller zum Aufhetzen nicht saftige Beschreibungen von den Genüssen anfertigen, die man hat, wenn man hat.“

Freilich, der Traum von den kleinen Genüssen wurde von seinen Propagandisten lange vor der Wahl dementiert. Schröders „Finanzierungsvorbehalt“ sowie die Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden einiger grüner Politiker lassen bezüglich einer effektiven „Entlastung kleiner Einkommen“ wenig erhoffen. In Zeiten leerer Kassen und mangelnden Umverteilungswillens beschwören die Regierenden gerne die Lernfähigkeit des Volkes, das allemal Opfer auf sich nähme, wenn man ihm nur vernünftig erkläre, wozu. Die von manchen Publizisten vorgeschlagenen Modernisierungen zielen auf die Verschlankung der Firma Deutschland. Daß jedenfalls die lohnabhängigen Wähler genau daran nicht interessiert sind, kann ihnen gleichgültig sein. Eine rot- grüne Politik jedoch, die die bei aller Skepsis unübersehbare, massenhafte Sehnsucht nach Zufriedenheit, das in der Tat utopische Moment, das im Vertrauensvorschuß an Schröder zum Ausdruck kam, nicht beachtet, provoziert Enttäuschungen. Utopien, und seien sie noch so unscheinbar, haben ihre eigene Dialektik.

III.

Was für die Auftragseingänge der Wirtschaft immer wieder beschworen wurde, Hoffnung, hat in diesem Wahlergebnis, zögerlich, seinen Ausdruck gefunden. Diese Hoffnung, die sich seit langer Zeit wieder einmal politisch artikuliert, ist weit von jeder Zuversicht entfernt. Die Suche nach Zufriedenheit, die sich an Personen wie Schröder und das Ideal der Vollbeschäftigung heftet, wird auf ein Feld symbolischer Politik umgelenkt, von dem bisher niemand sagen konnte, was es bedeutet: das „Bündnis für Arbeit“.

So ist von „Arbeitgeber“seite zu Recht festgestellt worden, daß nur deshalb, weil irgendwer mit irgendwem redet, kein einziger Arbeitsuchender eingestellt wird. Das „Bündnis für Arbeit“ bleibt so eine Schimäre, während jenes Vorhaben, das tatsächlich Arbeitsplätze schaffen könnte, die radikale Senkung der Lohnnebenkosten und ihre Gegenfinanzierung durch eine effektive Ökosteuer, von den SPD-Materialisten abgelehnt wird. Umgekehrt mutieren die Postmaterialisten, denen es stets darum ging, die Arbeitsgesellschaft zu überwinden, zu deren stärkster Stütze. So feiert mit Rot- Grün jene Vorstellung vom guten Leben, die seit geraumer Zeit für tot erklärt wurde, eine kaum glaubliche Auferstehung: die Arbeit.

So wird sich das künftige rot- grüne Bündnis durch eine ironische Pointe auszeichnen. In der Koalition von Materialisten und Postmaterialisten werden ausgerechnet letztere die Arbeitsgesellschaft zu retten versuchen, während die Materialisten sie durch das Beharren auf der Utopie des Autos zuverlässig weiter aushöhlen. Micha Brumlik

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