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Zuhause unerwünscht

Ika Hügel-Marshall, eine Deutsche mit schwarzer Haut. Ein „Negerkind“, gifteten die Leute in den fünfziger Jahren. Nun hat sie ihre fränkische Heimat wiederbesucht. Eine Reportage  ■ von Viola Roggenkamp

Um die Ecke, im Auto, wartet am Steuer ihre Halbschwster Inge und daneben die gemeinsame Mutter Käthe. Zwei weiße Frauen. „Grüß Gott.“ Heute abend wird Ika Hügel-Marshall aus ihrem Buch vorlesen, in der Kulturfabrik von Roth. Sie hatte es nicht vorgehabt. Doch dann stand in der Roth-Hilpolsteiner Volkszeitung im Zusammenhang mit ihrem Buch etwas über ihre Mutter.

Die Journalistin Petra Ullrich schrieb, die Autorin sei 1947 geboren als Kind eines schwarzen US-Soldaten und einer jungen Rotherin. Zwei Tage später war das Buch in Roth vergriffen. Ob sie aufgeregt sei wegen heute abend, frage ich die ehemals junge Rotherin, die heute dreiundsiebzigjährige Mutter? Käthe blinzelt vor sich hin und lächelt schmal: „Ah wo! Is' doch scho schee, wann die's alle mitkriegen.“

Mitgekriegt hatten sie es schon, in der bayerischen Kleinstadt vor einundfünfzig Jahren, als Ika geboren wurde. Erika hieß „das Negerlein“. So nannte man die schwarzen Besatzungskinder in Deutschland. Die Mütter wurden als „Negerhuren“ beschimpft. Der Vater war fort, wie für immer und ewig verschwunden aus dem Leben und der Welt seiner Tochter.

Erst als sechsundvierzigjährige Frau sollte sie ihn mit Hilfe einer Freundin in den USA finden, ihn und ihre andere, die Schwarze Familie. Ika Hügel-Marshall hat ihren Taufnamen Erika um das „Er“ verkürzt, ohne daß ihr die Bedeutung dieser beiden Buchstaben aufgefallen wäre. Ist das ein Wunder? Sie lebt heute in Berlin, ist Sozialpädagogin, macht Beratung für interkulturelle Therapie und ist zudem seit 1990 Pressereferentin im Orlanda-Frauenverlag.

Wir fahren hinaus an den Waldrand, wo das Haus der Schwester liegt. Auf der Terrasse ist der Tisch gedeckt. Eine riesige Sahnetorte wird in die Mitte gestellt. Inges Ehemann und ein netter, schwarzer Hund kommen hinzu. Alle sprechen durcheinander. Viel wird gelacht. Trotz des munteren Lärms erfahre ich von Mutter Käthe: „I war ja dumm. Mit einundzwanzig jung und dumm und nicht aufgeklärt, gar nix. Nach einem Mal. Da war's passiert. Das glaubt mir ja niemand.“

Ika protestiert. Ihr Vater habe zu ihr von acht Monaten gesprochen. Die Mutter: „Nei! Das war die Frau Weiß. I net. Mit der isser gangen.“ Sie sei dann mit dem Rudi zusammen gewesen und hatte gehofft, daß es von dem sei. Aber der Bluttest sprach dagegen. Also konnte es nur vom Eddie sein. Von dem schönen Eddie mit dem sanften Gesicht.

Käthe hatte an dem Abend im Juni, Juli draußen gestanden, am Zaun, sehnsüchtig. Das Tanzlokal war überfüllt. Er hatte sie hereingeholt, dieser Mann, schlank, groß. Und so schwarz, so fremd, so lachend, so übermütig.

Als sie es dann merkte, „war's für die Abtreibung zu spät“. In Angst vor Scham und Schande wurde das Kind erwartet. Warum war sie nicht zu Eddie gegangen? Käthe: „Was hätt' ich da gesollt? I wollt ja den nit heiraten.“ Daß Eddie bereits in Chicago verheiratet war, wußte sie nicht. Und er wiederum nicht, daß in Germany 1947 seine Erstgeborene zur Welt kam.

Ihre Mutter hatte Käthe nichts von dem Schwarzen Mann gesagt. „Das wird sie dann schon sehen“, hatte sie sich gedacht. Das Neugeborene war so rosig wie jedes andere in Roth. Aber mit der Zeit begann die Haut zu sprechen.

Es gab noch drei andere junge Frauen im Ort mit einem Schwarzen Baby. Die Familien mieden einander und brachten die Kinder nicht zusammen. „Bei uns in Schwabach“, sagt der Schwiegersohn am Kaffeetisch, „da hat's sowas ja auch 'geben. So Verhältnisse.“ Stille. Die unbestimmte Wortwahl ist verletzend genau. Mutter Käthe sagt zu ihrer Schwarzen Tochter: „Iß und trink!“

Deutschland hatte den Zweiten Weltkrieg gewollt, geführt und verloren. In ihrem wahnhaften Glaube, allen Völkern überlegen zu sein, war danach die breite Masse wie auch die deutsche Elite weniger schwer erschüttert als vielmehr schwer gekränkt. Mit den feindlichen Mächten kamen Schwarze und Juden wieder nach Deutschland, und zwar in der Uniform der Sieger. Das Konzept der Adenauerregierung, die sogenannten Mischlingskinder von ihren Weißen Müttern zu trennen, sie in Heime zu bringen und später die Mädchen nur untergeordnete, pflegerische Berufe erlernen zu lassen, führte den nationalsozialistischen Gedanken „durch Reinheit zur Einheit“ gegenüber „minderwertigen Rassen“ ungebrochen fort.

So erschien denn bei Käthe eines Tages ein Herr Siebert vom Jugendamt. Die kleine Erika war inzwischen fast sieben Jahre alt geworden, ging seit ein paar Monaten in die Rother Volksschule, war die Lieblingsenkelin ihrer Großmutter, hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester Inge, die im Gegensatz zu ihr einen Papa hatte, für den Erika in sich keinen Namen wußte. Wie wiederum ihr Stiefvater sie angesprochen haben könnte, dazu gibt es in Ika Hügel-Marshall keine Erinnerung. Daß er ihr das Fahrradfahren beigebracht hat, das weiß sie. Im Hinterhof. Freitags ging die Familie einkaufen ohne Erika. Sie sollte nicht mit. Das mußte nicht extra gesagt werden. Und sie hat nie gefragt. Sie fühlte es.

Herr Siebert vom Jugendamt erklärte der Mutter, sie müsse Erika ins Heim geben, ihrem Kind zuliebe diesen schweren Schritt tun, es könne „sonst aus dem Mischling“ nichts werden. In der regierungsnahen Wochenzeitung Das Parlament stand am 19. März 1952 zu lesen: „Der Mischling rebelliert gegen den Stachel der Verachtung. Ein Teil der Mischlinge, der sich dem europäischen Lebensstil genähert hat, ist moralisch herabgekommen und nicht charakterfest.“

Das Heim, in das Erika vom Jugendamt eingewiesen wurde, hieß „Kinderheimat Gotteshütte“, lag bei Wuppertal und viele Zugstunden entfernt von Zuhause, von der Mutter, der Großmutter, der Schwester und dem namenlosen Nichtvater, dem Mann der Mutter, dem Vater der Schwester. Niemand in dem Heim sprach dort ihren bayerischen Dialekt. Erika, ein aufgewecktes Mädchen, war das einzige Schwarze Kind unter Weißen lernbehinderten Kindern.

Die Mutter brachte Erika ins Heim. Herr Siebert vom Jugendamt fuhr mit. „Nur für sechs Wochen“, sagte die Mutter immer wieder zu Erika. „Dann hol' ich dich zurück.“ Versüßte Qual. Die erste Nacht blieb Käthe im Heim bei der Tochter. Am nächsten Morgen war die Mutter weg. Käthe: „Ich wollt' halt den Abschied vermeiden. Daß es nicht so schwer ist für die Erika.“

Die alte Frau sieht mich an. Ich soll ihr das jetzt glauben. Ich sage: „Für Sie. Sie wollten sich das ersparen, Ihre Tochter weinen zu sehen.“ Käthe weint. Schuldgefühle der Mutter und Schuldgefühle der Frau, durch deren Lust und neugieriges Begehren die Tochter für ihr Leben so Schweres mitbekommen hatte.

In der „Kinderheimat Gotteshütte“ erlitt das Kind einen Nervenzusammenbruch. Im Speisesaal, vor den Augen der anderen Kinder, zog Schwester Hildegard dem schreienden Mädchen die Hosen herunter und schlug es auf den nackten Unterleib mit einem Turnschuh. Daheim, in Roth, suchte die andere Tochter nach ihrer Schwester. Inge lief durchs Haus. Guckte im Hinterhof nach. „Die Erika macht Ferien. Die kommt in sechs Wochen zurück.“

Und warum sah dann die Mutter so verweint aus? Und warum sprach die Großmutter nicht mit der Mutter? Und warum sollte sie aufhören, nach Erika zu fragen? Die Weiße Halbschwester sitzt am Tisch neben ihrer Schwarzen Halbschester Ika und sagt mit angestrengtem Gesicht: „Ich kann mich nicht erinnern, daß ich je eine richtige Erklärung bekommen habe. Ich hatte Angst, dann auch fortzumüssen.“

Ika Hügel-Marshall ist im Heim aufgewachsen. Als sie es verließ, ging sie nach Frankfurt, holte den Realschulabschluß nach, wurde Schulsprecherin und begann zu studieren. Nichts von dem, war ihr im Heim und später von anderen Lehrkräften je zugebilligt worden. Alles erreichte sie gegen die Überzeugung anderer von ihrer angeblichen Minderwertigkeit.

Für den Antisemiten, schreibt der Psychoanalytiker Béla Grunberger in seinem Buch „Narziß und Anubis“, ist „der Jude kastriert, nicht weil er beschnitten ist, sondern weil er von der Gemeinschaft abgetrennt ist und deshalb außerhalb des Systems steht“. Übertragen auf das Konzept der Heimunterbringung von Schwarzen Kindern in Deutschland könnte man sagen: In den von ihren deutschen Müttern abgetrennten Schwarzen Kindern wurde der feindliche Sieger kastriert.

Als Erika ins Heim kam, lief in allen Kinos der deutsche Spielfilm „Toxi“. Millionen Menschen weinten über „das kaffeebraune Heimkind mit den dunklen Kulleraugen“ (Stern). Die sechsjährige Elfie Fiegert, die sich noch heute lieber Toxi nennt, „spielte ein verlassenes Besatzungskind – ihr eigenese Schicksal“.

1952 wurden 4.776 Kinder von Schwarzen GIs in Deutschland eingeschult. Der Film klagte den Vater an, der einfach abgehauen war und seinen Schwarzen Nachwuchs in Deutschland zurückgelassen hatte. „Toxi“ sollte die in Schuldgefühlen verstrickten Mütter entlasten und deren Aggressionen vom Staat weg und auf den verschwundenen Schwarzen Mann lenken. Dementsprechend grob war die Verurteilung der Weißen deutschen Frauen in USA. In der Chicago Tribune stand zu lesen, es sei „nicht einmal der Staat, der sich an diesen kleinen Geschöpfen versündigt, sondern – es sind die Mütter“.

An der Haustür klingelt es. Eki und Yvi sind aus Berlin geommen, zwei afrodeutsche Freundinnen von Ika. „Na?“ sagt Mutter Käthe, während die beiden Frauen Kuchen essen, „sieht sie mir ähnlich?“ Alle stellen fest: Ja. Tatsächlich. Es sind die Augen, ihr Blick, scheu, genau, prüfend, und die Wangenknochen. Aber das Lächeln, die schöne Nase, der Mund – ganz der Vater.

Wenn die Mutter „braun“ sagt, korrigiert die Tochter sie, es heiße „scharz“. Die Mutter fährt auf: „Also, schwarz ist der Ruß! Hier, da, mein Rock ist schwarz.“ Sie hat den guten, schwarzen Rock angezogen, für diesen besonderen Tag.

Käthe erzählt, der Wenzel, ihr Mann, der Vater von der Inge, der habe erzählt, als er in Kriegsgefangenschaft war, drei Jahre erst in England und dann das Jahr in Amerika, da habe er Hunger gehabt, und ihnen, den Deutschen, hätten die Amis nichts gegeben, doch immer mal ein Brauner, so einer habe ihnen was zugesteckt zu Essen. Da sei dann so eine schwarze Hand durch den Zaun gekommen.

Eki und Yvi kichern verlegen, wegen der schwarzen Hand, die da durch den Zaun kam. Ika fällt das Konzentrationslager Ravensbrück ein. Dort sei sie auf eine Besucherin, eine alte Jüdin, zugegangen und habe gefragt, ob sie im KZ einmal Schwarze Frauen gesehen habe. „Mädchen“, habe die Jüdin gesagt, „frag' mich nicht. Die hat's hier gegeben, aber wir haben keinen Kontakt gehabt. Frag' mich nicht, wieviele.“

Darüber geht am Kaffeetisch verloren, daß Stiefvater Wenzel seiner Frau Käthe, der Mutter seiner Schwarzen Stieftochter Erika, von der Menschlichkeit der Schwarzen erzählt hatte. Ich frage Käthe nach Ihrem Mann. Die spricht statt dessen über seine böse Mutter. Als sie damals schwanger war mit der Inge, da habe die zu ihr gesagt: „Was wirst du scho' bringen? Hund oder Katze.“ Und grad' da sei es auch wieder nur ein Mädchen geworden.

Am frühen Abend bringt mich Ika Hügel-Marshall im Auto zurück nach Roth. Diesmal fahren wir allein. In zwei Stunden beginnt ihre Lesung. Eki und Yvi, sagt sie, hätten als Afrodeutsche ein ganz anderes Selbstbewußtsein als sie. Eki habe ihren Schwarzen Vater bei sich gehabt, zeitweilig sogar in Jamaika gelebt. Und Yvi, die in Nigeria aufgewachsen sei, spreche mit afrikanischem Akzent. Beneidenswert. Deren Weiße deutsche Mütter seien eben weiter, jünger auch.

Wir fahren in Roth ein. „Es hat eine Zeit gegeben, wo ich wissen wollte, ob sie wirklich meine Mutter ist.“ Zum ersten Mal höre ich impulsive Bewegung in ihrem Ton. Später frage ich sie, ob sie darüber nachgedacht habe, warum eigentlich für sie Frauen so wichtig sind.

„Nee“, sagt sie. Sie sei verheiratet gewesen und keine Gegnerin von Männern. Sie fände Frauen attraktiver, faszinierender. „Ja, wenn ich es recht bedenke, psychische und physische Gealt habe ich von Frauen erfahren. Frauen bedeuten mir sehr viel.“ Sie brauche Frauen in ihrem Leben als Frau. Daß mache für sie in ihrem Lebenszusammenhang auch ihre Größe aus. „Ich halte mich selbst auch schon für eine großartige Frau.“

Eine Stunde vor Beginn der Lesung kommen die ersten Leute. Sie kommen, um Ika Hügel-Marshall zu feiern. Sie haben sich schön gemacht. Sind neugierig. Sie wollen zeigen, daß sie anders sind, als die Leute damals. Es sind wenigstens zur Hälfte dieselben Leute von damals. Über einhundertfünfzig Menschen, meist Frauen, unter ihnen etwa dreißig Männer. Mutter und Tochter sind sofort umringt. Ika Hügel-Marshall gibt Autogramme, schreibt Widmungen in ihr Buch – sie hat noch gar nicht zu lesen angefangen – für Menschen, die sie kennen, die sie nicht kennt, darunter die Verwandten ihrer Mutter, denn Käthe war ja die jüngste von immerhin vier Mädchen und zwei Buben. „Sie hat neben uns gewohnt“, erzählt eine ältere Frau. „I hab' einen Sohn im Alter. Aber der is' a scho nimmer. Der is' mit'n Auto tödlich verunglückt.“

Endlich haben alle im Saal einen Platz gefunden. Die Hausherrin der Kulturfabrik begrüßt das Publikum, erzählt, daß sie selbst seit Jahren mit einem Afrodeutschen zusammenlebe und vergißt darüber, den Gast des Abends namentlich zu begrüßen. Statt dessen wendet sie sich mit ausgestreckten Händen und strahlender Stimme Ika Hügel-Marshall zu, die seitlich noch im halbdunklen Hintergrund steht und auf Abstand bleibt. „Ich bitte um einen herzlichen Applaus für unseren Gast.“

Der will sich gerade an den Tisch setzen, da stürzt die Hausherrin noch einmal hinzu: „Daß die Mutti heut' auch hier anwesend ist, das hab' ich eben am Tresen erfahren, und die begrüß' ich auch ganz, ganz herzlich.“

Im Saal wird es ruhig. Da sitzt die Tochter von der Käthe und liest vor. Aber diese ernsthafte, kluge Frau da vorn, mit der ruhigen Stimme, ist nicht bloß die Tochter von der Käthe, sondern eine Frau, die etwas zu sagen hat, die ein Stück verdrängter deutscher Geschichte wieder hervorholt. Die Leute im Saal wissen, daß sie selbst diese Gesellschaft sind, die Mutter und Tochter das Zusammenleben unmöglich gemacht hat. Es ist so still, daß man nach den Empfindungen der zuhörenden Menschen suchen muß. Was ist mit ihnen? Keine Reaktionen.

Später weinen einzelne Frauen, und Männer machen feste Münder. Das ist, als Ika Hügel-Marshall von der Liebe zwischen ihr und ihrer Mutter liest. Aber sie weinen wohl auch, weil die Frau da vorn keine Beziehung zu ihnen aufnimmt. Sie warten alle auf schwere Vorwürfe. Aber die kommen nicht.

Später kommen Wortmeldungen. Zuerst ein Mann. Ihn beeindrucke ihre Stärke und daß sie so positiv sei. Er freue sich, daß sie sich so direkt anschauen lasse. Dann eine Frau: „Ich habe sechs Kinder. Ich kann mir nicht vorstellen, nur eines wegzugeben.“

Andere Frauen fragen: Ob sie denn beim Vater besser zurechtgekommen wäre? – Das schreckliche Heim habe ihr Bild vom Rassismus der Deutschen geprägt. – Ob ihr Vater versucht habe, den Kontakt aufzunehmen? – Warum sie der Mutter nicht gesagt habe, wie furchtbar es im Heim war? – Was ihr die Kraft gegeben habe? – Was für sie heute Familie sei? – Auch ihre Schwester habe viel durchgemacht, hier. Und ihre Mutter auch. – Eine Frau, die während der Lesung manchmal hustete, sagt vorsichtig: „Mir fehlt die Wut im Buch.“

Jetzt steht Mutter Käthe auf, geht zur Tochter und flüstert der etwas zu. Dann setzt sie sich wieder. Käthe möchte zum Schluß eine bestimmte Stelle vorgelesen bekommen. Aber Tochter Ika tut es nicht. Sie erzählt lapidar, daß es dabei um ihr erstes eigenes Zimmer, damals in Frankfurt, geht, das sie sich mit Sperrmüll eingerichtet hatte. Noch Fragen?

Nachher im Foyer, wo alle mit allen zu reden scheinen, frage ich Käthe, warum gerade diese Stelle im Buch ihr so gut gefalle. Sie blinzelt und lächelt verlegen: „Ja, weil sie's hergerichtet hat, was and're wegschmeißen. Das macht ja niemand.“

Gleich neben uns redet eine Frau auf die Schwester Inge ein: Die Erika habe da so liebevoll über ihren Vater geschrieben. Die Männer seien ja alle nach Amerika weg, und ob sie etwa hingegangen sei zu dem „und hat gesagt, sie möcht jetzt für achtzehn Jahre den Unterhalt“. Inge lächelt spröde und verteidigt für ihre Schwester deren Vater, den sie gar nicht kennt.

Über Inge haben die Leute in Roth gesagt, „das ist die, wo die Schwester vom Neger ist“. Und über ihren Vater Wenzel zerfetzte man sich das Maul. Der Mann, der sich nach außen vor Käthe und ihre Schwarze Tochter stellte, war der Retter der Familie – und die Null, der Schlappschwanz, der sich mit so einer einließ.

Was die Leute alles so sagen, wollen die Leute nicht immer von allen gehört wissen. Wo ich mich dazu stelle, werde ich zeitweilig abrupt hinter der bayerischen Sprachbarriere abgesetzt. Ich bin unter Eingeborenen und verstehe kein Wort. Einige tragen Tracht. Auf dem Weg ins Restaurant sagt Neffe Heiko in seinem Jeep: „Meine Tante, die Ika, die ist tapfer. Pionierarbeit ist das, was die tut.“

Anderntags sitzen wir uns bei Milchkaffee und Mineralwasser gegenüber. Die Frage nach ihrer Wut käme immer bei Lesungen, sagt Ika. Es habe nicht wirklich etwas gegeben, worauf sie einfach hätte wütend sein können. „Daß meine Mutter mich geliebt hat“, habe sie als Kind gefühlt. „Dennoch hat sie mich weggegeben. Sie war für mich der einzige Mensch, der mich liebt. Ich konnte es mir nicht erlauben, auch noch wütend auf sie zu sein.“ Ich hatte mich beim Lesen ihres Buches zeitweilig genau darin gequält gefühlt, wie eine wortlose Verständigung zwischen ihr und mir, der Leserin, über ein etwas Unaushaltbares. Die Diskrepanz zwischen geliebt und preisgegeben werden.

Von der Mutter wurde Erika stets darauf hingewiesen, zum Stiefvater „danke“ zu sagen. Das einzige Bild, das es von Ikas Vater Eddie gab, hatte Wenzel eifersüchtig zerrissen. Aber er schickte Pakete ins Heim. Im Buch bleibt nahezu verborgen, daß sechs Jahre lang die kleine Schwarze Erika mit dem Weißen Stiefvater gelebt hat, der Mann, der als Vater nicht ihr, sondern ihrer Schwester gehörte.

Er taucht im Buch nur auf als der Mann, der sie immer wieder zurück ins Heim bringt. Er ist also derjenige, der mit ihr die schwere Reise macht. An ihn zu denken, habe sie vielleicht nie gewagt. Daß sie ihn mir jetzt beschreibt, tut sie zum ersten Mal in ihrem Leben. Ruhig sei er gewesen, zurückhaltend, sehr korrekt, sehr unsicher in seiner Art fremden Menschen gegenüber. Mit seiner Schwarzen Stieftochter verband sich das Fremde als auch die schlimme Sexualität. Gewiß nicht nur für ihn.

Erst als sie im Heim war, hat Ika an ihren Stiefvater denken können und gedacht, „es hat mit ihm zu tun“, daß sie weg mußte. Undenkbar, daß die Mutter sich von ihr hätte trennen können, sie ihr gegenüber rassistisch gewesen wäre.

Noch heute erlebt sie sich in Beziehungen nahezu gespalten, am deutlichsten in der Trennungsphase: Erstens hat sie Schuld, „das ist mal sicher“. Und zweitens, wenn sie ihr Gegenüber als rassistisch empfindet, habe die oder der das mit Sicherheit nicht so gemeint. „Mein Leben bestand aus absoluter Sicherheit“, sagt sie. Und das heißt keinesfalls Schutz, sondern Selbst- und Gegenkontrolle. In diesem System ist dann nicht mehr die Andere, sondern sie es, die in sich die Schwarze Frau im Stich läßt, um nicht aus der Welt der Weißen zu fallen.

Für den Besuch bei Vater Eddie Marshall in Chicago kaufte Käthe ihrer Tochter „was ganz Schönes zum Anziehen“. Eine teure Bluse, zwei schöne lange Hosen. Daß Ika dann am Chicagoer Flughafen in größter Sorge war, gerade der Koffer mit dieser Kleidung von der Mutter könnte verloren gegangen sein, fühlte sich deutlich nach Angst vor Verrat an. Die vom Mann verlassene Frau und die vor dem gemeinsamen Kind versagt habende Mutter mußte die treue Tochter in Form der Bluse bei sich haben.

Von ihrer endlich gefundenen Schwarzen Familie erhielt Ika soviel Zuwendung, daß sie nach dem ersten Tag „ganz krumm vor Liebeslast“ ging. Und dann entdeckte sie im Fotoalbum der Familie Marshall unter ausschließlich Schwarzen ein Weißes Gesicht. Ihre Mutter. Das Foto von Käthe hatte Ika ihrem Vater geschickt. Die Marshalls hatten es eingeklebt. Schamröte war der deutschen und zur anderen Hälfte ja auch Weißen Ika Hügel-Marshall ins Gesichts gestiegen. „Ich weiß nicht, ob Schwarze Kinder in Weißen Familien so willkommen geheißen werden.“

Viola Roggenkamp, 50 Jahre, lebt in Hamburg und schreibt für die Zeit und die taz.

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