: Multikulti – ein Erziehungsstil
Als erster Bezirk hat gestern Schöneberg ein Konzept zur mulikulturellen Erziehung in Berliner städtischen Kindertagesstätten vorgelegt. Das Konzept „Dialog der Kulturen“ ist verbindliche Grundlage ■ Von Sabine am Orde
Katharina mit dem blonden Pferdeschwanz steht auf einem der roten Kinderstühle und reckt die Nase in die Höhe. Sie will sich die neue Fotocollage an der Wand anschauen. An dem blauen Luftballon, der unter ihrem Arm klemmt, zerrt Burak, ein dunkelschöpfiger Knirps. „Bende balon istiyorum“, ruft er aufgeregt – ich will auch einen Ballon – und stampft entschieden mit dem Fuß auf den Boden. Kein Grund zum Streit: Die Leiterin der Kindertagesstätte zeigt in den Nebenraum, wo es noch reichlich Luftballons in allen Farben gibt. Sie versteht Burak nicht nur, weil das Wort für Ballon auf deutsch und auf türkisch ganz ähnlich klingt. Eren Ünsal ist selbst türkischer Abstammung.
Als sie drei Jahre alt war, kam ihre Familie nach Berlin. Heute leitet die Pädagogin mit einer deutschen Kollegin die Kita „Kleiner Frosch“, die der Türkische Elternverein seit fünf Jahren in Berlin- Moabit betreibt: 35 Kinder zwischen zwei und zwölf, für 60 Prozent der Kids ist Türkisch die Muttersprache. Das ist in den westlichen Innenstadtbezirken nicht ungewöhnlich. Das besondere am „Kleinen Frosch“: Die Kita versteht sich als zweisprachige, interkulturelle Einrichtung, die nach dem Konzept „eine Person — eine Sprache“ arbeitet.
„Das hört sich so hochtrabend an“, sagt Ünsal, „ist aber eine ganz einfache Sache, allerdings mit einem hohen Effekt.“ In jedem ErzieherInnenteam gibt es eine deutsch- und eine türkischstämmige KollegIn, die mit den Kindern jeweils in ihrer eigenen Muttersprache spricht. Dabei wird viel Wert auf das Sprechen gelegt, jede Tätigkeit mit Worten begleitet. Gabi Axenbeck, Ünsals deutsche Kollegin, gießt Burak also nicht nur Tee ein, sondern sagt dazu: „Jetzt gibt es für jedes Kind eine Tasse Tee.“ Das Ziel: Alle Kinder werden in ihrer Muttersprache stabilisiert und lernen zudem eine Fremdsprache. Davon profitieren nicht nur die türkischen Kinder.
„Die Kinder lernen quasi am Modell“, sagt Ünsal, „sie lernen, daß es okay ist, wie sie sind.“ Sie selbst, so Ünsal weiter, sei das Modell einer emanzipierten türkischen Frau aus der zweiten Generation. Angeboten werden im „Kleinen Frosch“ Tänze und Lieder, Spiele und Bilderbücher, Feste und Essen aus Deutschland und aus der Türkei. Ünsal: „So lernen die Kinder, daß es außer ihrer eigenen noch andere Kulturen gibt, die gleichwertig sind.“
Mit all dem ist der „Kleine Frosch“ kein Original, andere freie Träger wie die Arbeiterwohlfahrt (AWO) und der Verein zur Förderung ausländischer und deutscher Kinder (VAK) betreiben schon seit mehr als 25 Jahren zweisprachige, interkulturelle Kitas in Berlin. Doch noch immer sind diese Einrichtungen Ausnahmen.
In Schöneberg soll sich das jetzt ändern. Denn als erster Berliner Bezirk hat der Stadtteil, von dessen 147.000 EinwohnerInnen ein knappes Viertel keinen deutschen Paß besitzt, ein Konzept zur interkulturellen Erziehung in städtischen Kindertagesstätten vorgelegt. Diese stellen den großen Batzen der Kita-Plätze in Berlin: Im Westteil der Stadt sind etwa 60 Prozent der Plätze in städtischer Hand, im gesamtberliner Durchschnitt sind es sogar über 70.
Dabei hat man nicht nur in Schöneberg erkannt, daß dringender Handlungsbedarf besteht. Auch in den sogenannten Innenstadtkonferenzen, die der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) einberufen hat, werden fehlende Integration und mangelnde Deutschkenntnisse ausländischer Kids beklagt und nach Handlungsperspektiven gesucht. „Endlich hat man unser Alarmgeschrei gehört“, sagt dazu Schönebergs grüne Jugendstadträtin Ulrike Herpich-Behrens. „Kitas müssen jetzt einen ganz großen Stellenwert bekommen.“
Dies hat Schöneberg bereits vor vier Jahren erkannt. Seit Februar 1995 arbeitet eine bezirkliche Arbeitsgruppe, die jetzt das Konzept zur interkulturellen Erziehung „Dialog zwischen den Kulturen“ vorgelegt hat. „Dieses Konzept ist eine verbindliche und verpflichtende Grundlage für die Arbeit in Schöneberger Kitas“, sagt Stadträtin Herpich-Behrens. Zwar erstelle jede Kita ihr eigenes Hauskonzept, doch müsse sie den Rahmen berücksichtigen, den das Bezirksamt vorgibt. Und dazu gehört jetzt auch das interkulturelle Konzept.
Der Ansatz der SchönebergerInnen ähnelt in vielen Dingen dem der Kita „Kleiner Frosch“. Auch hier geht es um Gleichwertigkeit von Mutter- und Landessprache, um Vermittlung der eigenen und der fremden Kultur, um Fortbildung der MitarbeiterInnen und Elternarbeit. Doch es gibt zwei wichtige Unterschiede: In den Kitas im nördlichen Schöneberg, in denen der Anteil der nichtdeutschen Kids nicht selten bei 80 bis 90 Prozent liegt, gibt es oft nicht nur zwei, sondern drei, fünf, manchmal zehn Nationalitäten in einer Kindergruppe. „Babylonische Zustände“ nennt die Jugendstadträtin das.
Bei den ErzieherInnen ist das Gegenteil der Fall: Von den etwa 500 MitarbeiterInnen in den städtischen Einrichtungen Schönebergs sind gerade 15 nichtdeutscher Herkunft. Und so schnell ändern wird sich das nicht: Denn im öffentlichen Dienst herrscht Einstellungstopp.
Freiwerdende Stellen werden aus dem sogenannten Überhang besetzt, das heißt meist mit Erzieherinnen aus dem Ostteil der Stadt, deren Stellen gestrichen wurden. Mit der multikulturellen Wirklichkeit der Westberliner Innenstadtbezirke haben diese meist wenig zu tun.
Doch überfordert mit dem Kita- Alltag seien häufig auch WestkollegInnen, weiß Herpich-Behrens: „Das fängt schon damit an, daß sie oft einfach kein Wort verstehen.“ Fortbildung der MitarbeiterInnen ist deshalb ein Schwerpunkt des Schöneberger Konzepts. Die ErzieherInnen sollen dabei nicht nur pädagogisch, sondern auch politisch geschult werden. „Sie müssen auch etwas über das Asyl- oder das Staatsbürgerschaftsrecht wissen“, sagt Herpich-Behrens, „damit sie die Hintergründe der Familien verstehen können.“
Eine Ausnahme gibt es bei den Einstellungen: Um BerufsanfängerInnen nicht vollends auszuschließen, wird jede vierte freiwerdende Stelle mit einem Neuling besetzt. „Da setzen wir die Priorität bei zweisprachigen Erzieherinnen“, sagt Wolfgang Mohns, der beim Schöneberger Jugendamt für Kitas zuständig ist. „Aber das entwickelt sich sehr langsam.“
Türkan Nazir ist eine der wenigen türkischstämmigen ErzieherInnen in Schöneberg. „Als ich hier vor 13 Jahren angefangen habe, war es verboten, in der Kita Türkisch zu sprechen“, erinnert sie sich. Seit Anfang September arbeitet Nazir in einem Modellprojekt, das in der städtischen Kita Bülowstraße zweisprachige Erziehung in einer multinationalen Gruppe erprobt.
Sechs der zehn Anderthalb- bis Dreijährigen ihrer Gruppe sind türkischer Herkunft, dazu kommt ein russisches, ein albanisches, ein griechisches und ein deutsches Kind. Nazir spricht mit den türkischen Kids ihre Muttersprache, mit den anderen — wie ihre Kollegin mit allen — Deutsch. Hülya Zorlners anderthalbjährige Tochter ist eines der türkischen Kids. „Wir sprechen zu Hause mit ihr nur Türkisch“, sagt Zorlner in fließendem Deutsch, „aber sie soll natürlich auch gut Deutsch lernen, damit sie später keine Schwierigkeiten bekommt.“ Diese Sorge treibt viele türkische Eltern, manche wollen deshalb sogar, daß in der Kita nur Deutsch gesprochen wird.
Genau davon hält Kita-Leiterin Eran Ünsal nichts. Sie selbst sei als Dreijährige in eine deutschsprachige Kita gekommen, erinnert sie sich, „weil beide Elternteile in Schicht arbeiteten“. Zu Hause sei nicht viel gesprochen worden, langsam habe sie das Türkisch verlernt. „Mit 23 habe ich dann angefangen, es neu zu lernen, wie eine Fremdsprache quasi.“
Ünsal weiß aber auch, daß heute für viele Kids die Realität anders aussieht: Die Sprachkenntnisse seien schlechter geworden, bemerkt sie. Denn anders als früher sei heute — wegen der hohen Arbeitslosigkeit — meist mindestens ein Elternteil zu Hause, der die Kinder betreue. Häufig sei das der Elternteil, der aus der Türkei nachgekommen sei und kein Wort Deutsch spreche. „Das können auch die Väter sein“, betont sie. Außerdem seien heute Deutschkenntnisse nicht mehr überlebensnotwendig: „Die türkische Infrastruktur in Kreuzberg ist so gut, daß man dort ein ganzes Leben verbringen kann, ohne ein Wort deutsch zu reden.“ Selbst zum Fernsehen sei das, Kabel sei dank, nicht mehr notwendig. Das Ergebnis: „Viele Kinder werden rein türkisch sozialisiert, wenn sie in die Kita kommen, sprechen viele kein Wort Deutsch.“
Ünsal glaubt auch, daß heute weniger Eltern ihre Kinder in die Kita schicken. Statistisch nachweisen kann man das nicht, zu dünn ist das Zahlenmaterial. Doch Ünsal glaubt, daß sich bei der hohen Arbeitslosigkeit viele die Kita-Kosten nicht leisten wollen, weil sie scheinbar ja auch nicht mehr notwendig sei. „Manche Eltern verstehen die Kita eben nicht als Erziehungs- und Bildungseinrichtung.“ Außerdem sei die Angst, daß das Kind „eingedeutscht“ werde, noch immer sehr groß. „Vor zehn Jahren habe ich noch gedacht, daß sich das Problem mit den Jahren von allein erledigt“, sagt Ünsal und guckt dabei eher kämpferisch denn resigniert, „aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein.“
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