: Sport unter dem Davidstern
■ Der jüdische Turnverein Bar Kochba Berlin wäre in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden. Sportwissenschaftler und Zeitzeugen kamen in die Gedenk- und Bildungsstätte am Wannsee
Der Sigi, Mensch, der lief die 500 Meter unter 60 Sekunden! Das war sein Ticket für den größten Straßen-Staffellauf der Welt, den Lauf „Potsdam– Berlin“. 50 Läufer mußte jede Staffel für die 25 Kilometer vom Potsdamer Schloß zum Berliner Tiergarten stellen.
Hier sei er doch jahrelang vorbeigelaufen, erinnert sich der heute 86jährige Hockeyspieler und Leichtathlet aus Tel Aviv etwa 70 Jahre danach im „Haus der Wannsee-Konferenz“, dem Ort, an dem die Nazis am 20. Januar 1942 den Völkermord an den Juden in seinen Grundzügen organisierten – viele seiner Vereinskameraden überlebten das Morden nicht.
Sigi Gross war Mitglied im ersten jüdischen Turnverein Deutschlands, „Bar Kochba Berlin“. Der drittälteste Verein dieser Art weltweit wäre in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden – Anlaß für ein Symposium über „Jüdischen Sport und jüdische Gesellschaft“, das die Freie Universität Berlin, die Gedenk- und Bildungsstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ sowie die Führungs- und Verwaltungsakademie Berlin des Deutschen Sportbundes jetzt abhielten.
Etwa 80 Sportwissenschaftler und Zeitzeugen aus 13 Ländern diskutierten in der grausigen Villa über die Geschichte des jüdischen Sports, die so widersprüchlich ist wie der Kontrast zwischen dem idyllischen Ort der Tagung am herbstlichen Wannsee und dem elenden Schicksal vieler jüdischer Sportlerinnen und Sportler.
Die Widersprüche waren von Anfang an da: Die Bildung erster Turnvereine von Juden Ende des vergangenen Jahrhunderts lagen zwar im Trend der Zeit, jedes Kuhkaff gründete seinen TuS Germania oder seinen F.C. Eintracht. Unter Juden aber war die Bildung eigener Vereine umstritten, denn in den Gemeinden befürchtete die Mehrzahl, dadurch könnte sich die Integration in die Mehrheitsgesellschaft erschweren, der Antisemitismus wachsen. Die jüdischen Sportler hielten dagegen: Gerade weil die Judenfeindlichkeit wachse, brauche man Vereine.
Ideologisch unterfüttert wurde diese Ansicht durch den Zionismus, vor allem vom Schriftsteller Max Nordau. Der forderte vor 100 Jahren auf dem 2. Zionistischen Kongreß in Basel mit Hilfe des Turnens die Erschaffung eines „Muskeljudentums“, das Palästina zur Heimstatt seines Volkes ausbauen sollte. Selbst unter Juden war die absurde Vorstellung verbreitet, ihr Volk sei durch Jahrhunderte in engen Ghettos geschwächt.
Von wegen: Die Jüdische Turnerschaft war schon vor 1914 in sechs Ländern vertreten, in 84 Vereinen ertüchtigten sich knapp 8.400 Männer und Frauen. Der Jüdische Sportverein Hakoah Wien war in den 20er Jahren das Aushängeschild des jüdischen Sports und errang 1925 die österreische Fußballmeisterschaft. In den USA war Basketball bis in die 30er Jahre ein von Juden geprägter Sport – davon schwärmte, ganz unwissenschaftlich, Murry R. Nelson von der Pennsylvania State University.
Der Bruch kam in Deutschland, wie zu erwarten, mit der Nazizeit. Zwar führte die Schikanierung und Verfolgung der Juden zunächst zu einem Boom der jüdischen Vereine: Jüdische Sportler wurden aus den allgemeinen Turn- und Sportvereinen ausgeschlossen und suchten deshalb in jüdischen Vereinen sportliche Befriedigung. Doch mit der Pogromnacht vor 60 Jahren war offiziell auch der jüdische Sport in Deutschland am Ende, alle Vereine wurden verboten.
Auf eine irrwitzige, meist zynische Art ging die Geschichte des jüdischen Sports auch während des Holocaust weiter, wie George Eisen von der Central Connecticut State University im eindruckvollsten Referat der Tagung zeigte: Es gab Leibesertüchtigung im Schatten der Shoah, im Nebel der Krematorien von Auschwitz.
Im Getto von Wilna hielten die eingeschlossenen Juden eine Olympiade ab, liefen eine Art Marathon entlang des Stacheldrahtzauns um ihren abgesperrten Stadtteil. Ein Sport- und Spielplatz wurde gebaut, mit der Begründung: „Dieser Ort wird ein authentisches Symbol unserer unbändigen Vitalität und unseres unerbittlichen Willens sein zu überleben...“, so einer der jüdischen Getto-Leiter, Joseph Muszkat. Im Rigaer Getto organisierten Sportler regelmäßige Fußballspiele.
Diente Sport den Juden im Schatten des Holocaust dazu, die Moral aufrechtzuerhalten, eine Spur des normalen Lebens zu rekonstruieren, war der „Sport“, zu dem die Täter ihre Opfer zwangen, ein Schritt im Prozeß der Vernichtung, wie Eisen beschrieb.
Die Demütigung und Entwürdigung der Juden begann mit ihrem Ausschluß von Sportstätten, ging über die psychische Demoralisierung durch physische Übungen bis zur Entmenschlichung und Tötung durch sadistische, quasi-sportive Handlungen. Der Holocaust, so Eisen, war den Tätern nur möglich, wenn sie in ihren Opfern keine Menschen mehr sahen.
KZ-Wächter in Auschwitz zwangen die Internierten, endlos Liegestützen zu machen, schwere Wagen sinnlos durch die schlammigen Wege des Lagers hin und her zu schieben, und nannten dies „Sport“. Im Lager von Plaszów, bekannt durch „Schindlers Liste“, veranstalteten die Nazis Rennen unter den Inhaftierten, gestoppt mit einer Stoppuhr – wer als letzter ins Ziel kam, wurde umgebracht.
Es gab einen Swimmingpool und einen Fußballplatz in Auschwitz, auf dem die Wächter Spiele unter den Gefangenen austragen ließen. Dabei wetteten sie, wer gewinnen würde, die Spieler wurden später vergast.
Wenige Jahre später, 1953, gründeten Holocaust-Überlebende und Palästina-Emigranten in Israel den Verein der ehemaligen Sportler von „Bar Kochba Berlin“. Sigi Gross ist der Vorsitzende. Von ehemals über 100 Mitgliedern leben nur noch um die 30, aber die konnten erleben, wie jüdische Sportler trotz des Holocaust noch immer alle vier Jahre bei der jüdischen Olympiade, der Makkabiah, mit Tausenden von Teilnehmern und auch einer deutschen Auswahl schwitzen – bei den modernen Olympischen Spielen gewannen jüdische Sportler seit 1896 mehr als 130 Goldmedaillen. Die ehemaligen Mitglieder von „Bar Kochba Berlin“, so berichtete Sigi Gross auf der Tagung, wollen sich nur noch einmal, dieses Jahr zu Hanuka, in Israel treffen – um sich dann, passend zum Hundertsten, aufzulösen. Philipp Gessler
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