: Flugentenkeule für die Nachbarschaft
Die Kiezkantine in Prenzlauer Berg feiert heute ihr fünfjähriges Bestehen. Das Projekt schuf 21 ABM-Stellen und vergibt das Essen nach sozial gestaffelten Preisen. Der täglich volle Laden gilt als Modell für Nachfolgeprojekte ■ Von Christof Schaffelder
Oderberger Straße, Prenzlauer Berg. In den achtziger Jahren bereitete die Straße den staatlichen Organen arges Bauchgrimmen. Ganze Dissertationen der Staatssicherheit wurden über sie verfaßt. In Bürgerversammlungen hatten die Bewohner eine geplante Abrißsanierung verhindert und durch Zusammenlegung von Hinterhöfen in Eigenregie den „Hirschhof“ geschaffen.
Diese Nachbarschaftsbewegung lebt unter anderem in der Kiezkantine in der Oderberger Straße 50 weiter. Das Haus wurde Anfang der Neunziger von seinen Bewohnern genossenschaftlich erworben und in Selbsthilfe instand gesetzt. Im Erdgeschoß entstand ein Nachbarschaftszentrum: die Kiezkantine, in der es nicht nur wochentags billiges Essen gibt, sondern darüber hinaus auch Raum für Sozial- und Mieterberatung und Initiativen wie das „Stadtforum von Unten“. Heute wird sie fünf Jahre alt.
„Gut, daß ihr uns erinnert, wir hätten den Geburtstag glatt vergessen.“ Projektleiterin Kristina Schneider schaut vorsichtshalber noch mal nach. Richtig: Am 17. Dezember 1993 bezog die Sozialkantine das Erdgeschoß der Oderberger 50. Für die Gäste ist für heute ein Weihnachtsessen geplant: thailändische Gemüsesuppe mit Zitronengras und Kokosmilch, Flugentenkeule mit Kartoffelklößen und Rotweinsoße sowie Brokkoligratin. Aber auch ohne Festessen stehe fest: Heute wird es wieder voll.
„Das ist unser Hauptproblem zur Zeit: Wir haben nicht genügend Platz“, meint Kristina Schneider. Zur Mittagszeit müssen die Gäste sogar häufig Schlange stehen. Einige Stammgäste kommen daher extra etwas später und nehmen das Risiko in Kauf, daß eins der Gerichte schon ausverkauft ist.
Wolf zum Beispiel, ein Künstler, der zur Zeit von Arbeitslosenhilfe lebt. Er kommt fast täglich und zahlt für ein Hauptgericht nur 3 Mark. Das ist billiger, als selbst zu kochen. Mit dem Bewilligungsbescheid vom Arbeitsamt konnte er nachweisen, daß er unter 1.000 Mark im Monat bekommt und so ein Anrecht auf die „Preisgruppe 1“, den Sozialtarif, hat. Studenten, Schüler, Rentner und Arbeitslose mit weniger als 1.500 Mark Monatseinkomen zahlen 5 Mark für das Essen.
Oliver dagegen zahlt mit 7 Mark den vollen Preis. Er ist zufällig vorbeigekommen und hätte auch mehr für sein Essen gezahlt. Normalerweise lebt er in New York. Dort gebe es wesentlich mehr Suppenküchen als hierzulande, erzählt er, aber keine sozial so gemischte Einrichtung wie die Kiezkantine.
Die soziale Mischung ist Programm – auf ihr beruht auch die Preiskalkulation. Der Warenwert der Gerichte liegt im Durchschnitt über dem Preis der unteren Sozialstufe. Die wird durch die anderen Zahler subventioniert. Die Lohnkosten finanzieren Arbeitsamt und ein Stellenprogramm des Senates, die laufenden Kosten werden zu gut 80 Prozent aus Arbeitsamts- und EU-Geldern bestritten. Die restlichen Mittel werden vor allem über den Getränkeverkauf erwirtschaftet. Insgesamt 21 auf ein Jahr befristete Stellen auf dem zweiten Arbeitsmarkt sind auf diese Weise entstanden. Verbunden sind sie mit fachlichen Weiterbildungsmaßnahmen und sozialen sowie arbeitsrechtlichen Schulungen.
Ohne den Nachbarschaftsgeist in der Oderberger Straße würde die Kiezkantine heute wohl nicht mehr exisitieren. Vor drei Jahren mußte der ABM-Ausschuß über die Fortführung des Projekts entscheiden. Die Hotel- und Gaststätteninnung befürchtete eine öffentlich subventionierte Konkurrenz. Mit rund 20 Betrieben aus der unmittelbaren Nachbarschaft sprach sich jedoch die lokale Gastronomie nahezu vollständig für eine Weiterförderung aus. Die Innung zog ihren Einspruch zurück, der Ausschuß bewilligte die Regelförderung.
Heute gilt die Kiezkantine als Modell. In Weißensee, Pankow, Neukölln und Kreuzberg sollen ähnliche Projekte entstehen.
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