: From inner space
Das Verbrechen als vitale Interaktionsform in einer Welt voller Melancholiker: James Graham Ballard ist ein Autor mit hohem Irritationsfaktor ohne Schubladenformat ■ Von Thomas Wörtche
Es gibt Schriftsteller, die sich nicht etikettieren lassen. Der 1930 in Shanghai geborene Engländer James Graham Ballard gehört dazu. Selbst alleroberflächlichste Sortierungen – Verlage beispielsweise – sagen wenig aus: Ballards 15 Romane und Dutzende Erzählungen sind in Deutschland bei Suhrkamp erschienen und bei Bastei, bei Heyne und bei Piper; die winzige Edition Phantasia hat ihn mit hohem Risiko und Kleinstauflagen jahrelang über Wasser gehalten. Jetzt soll er von Goldmann als Taschenbuch dem mass- market zugeführt werden.
Wer so irritierend zwischen schund- und hochliterarischen Kontexten hin und her pendeln muß, ist vermutlich wirklich in keiner Kategorie heimisch. Zudem ist Ballard einer der seltenen Fälle, denen die üblichen Konjunkturen des Kulturgetriebes weder geschadet noch genützt haben. Daß Steven Spielberg seinen autobiographischen Roman über seine Internierung in einem japanischen Camp, „Das Reich der Sonne“ (1984), verfilmte, hat Ballard nicht berühmter gemacht. Und daß David Cronenbergs Verfilmung seines Pseudo-Pornoschocker „Crash“ 1996, 23 Jahre nach Erscheinen des Romans, in England einen schicken Zensur-Skandal auslöste, hat ihn nicht zum poète maudit romantisiert.
An der Substanz seines Schaffens gingen solche sekundären Veredelungen spurlos vorbei. Ballards erste Story, „Prima Belladonna“ erschien 1956 im britischen SF-Magazin Science Fantasy, und damit war er als SF-Autor festgelegt. Immer mit dem verlegenen Zusatz: „anspruchsvoll“. Schon an diesem ersten Text allerdings war soviel Wissenschaftlich-Fantastisches wie an Kafkas „Strafkolonie“. Also nichts. Ballard erzählt von einer rätselhaften goldhäutigen Sängerin, deren Stimme alle möglichen Projektionen der Zuhörer akustische Realität werden läßt (die einen hören „Die Nibelungen“, gespielt von Stan Kenton, die anderen Bach persönlich die „b-Moll-Messe“ dirigieren), und er erzählt von von singenden Blumen. Das setzt er, einfach so. So wie jede Literatur es tut. Bloß daß Ballards Setzungen nicht immer mit allgemein üblichen Raum- Zeit-Koordinaten übereinstimmen. Der Rest ist Sprache, Bildmächtigkeit und Rätsel.
In einer irgendwie zustandegekommenen Zukunft, über die wir lediglich wissen, daß der Kampf zwischen Mensch und Natur nicht von homo sapiens gewonnen wurde, spielt auch Ballards frühe Romantetralogie: „Der Sturm aus dem Nichts“ (1962), „Karneval der Alligatoren“ (1962), „Die Dürre“ (1964, auch als „Welt in Flammen“) und „Kristallwelt“ (1966). Der tetralogische Charakter der Romane ergibt sich aus einem Quartett ökologisch-klimatischer Katastrophen, die Ballard als gegeben setzt: Versteppung, Dehydrierung, globale Erwärmung und merkwürdige Kristallisation von organischer Materie. Sie sind thematischer Ausgangspunkt für seine gleichzeitig luzide und rätselhaft-bizarre Prosa, die es fertigbringt, selbst „das Dröhnen der Triassonne“ („Karneval“) sprachlich hörbar zu machen. Die Porträts der wenigen Menschen, die in den unterbevölkerten, weiten und zeitlosen Räumen umherirren, sind ebenso rätselhaft. Es sind klargeistige Melancholiker, scharfsinnige Depressive (meist Ärzte), intendierte Verwandte Conradscher oder Melvillescher Figuren („Kristallwelt“ liest man am besten auf der Folie von Conrads „Herr der Finsternis“). Ihre einvernehmlichen Leiden an „ontogenetischem déja vu“ oder an Zeitverwerfungen inszeniert Ballard als prächtige, glitzernde, surreale Tableaus. Diese Romane, zusammen mit etlichen Kurzgeschichten („Die Gioconda des Mittagszwielichts“, „Das Delta bei Sonnenuntergang“) ergeben eine faszinierende „Poesie der Stasis“, an der alle vereindeutigenden gesellschaftskritischen oder sonstige außerliterarischen Deutungen abprallen.
Der „futuristische“ Rahmen eröffnet so paradoxerweise eine Art „inner space“, eine innere Landschaft, die aber eher geohistorisch denn tiefenpsychologisch strukturiert ist. Das Schlagwort inner space allerdings machte Ballard in den 60er Jahren zum mehr oder weniger unfreiwilligen Repräsentanten einer Gruppe von amerikanischen und britischen Autoren, die sich um das von Michael Moorcock herausgegebene Magazin New Worlds scharten. „New Wave“ nannte sich die Bewegung. Sie produzierte viel Schaum und polternde Schlägereien. Norman Spinrad gehört dazu und löste 1969 mit seinem „medienkritischen“ Roman „Champion Jack Barron“ eine wirre Porno-Debatte im UK aus, Harlan Ellison surfte mit seinen Sex-und-Gewalt-Phantasien auf dieser Wave, und alle, alle profitierten von Ballards Renomee.
In einem BBC-Interview fand er die griffige Formulierung, daß SF eine „vorausschauende Form der erzählenden Literatur“ sei: „Sie sieht die Gegenwart in Begriffen der nahen Zukunft und nicht der Vergangenheit.“ Was aber sind die „Begriffe der nahen Zukunft“? Wenn sie mehr sein sollen als reine Extrapolationen von gegenwärtigen Trends (wie bei Spinrad), dann müssen sich vor allem die erzählerischen Verfahren ändern. Ballard entwickelte also „nicht-lineares“ Erzählen und legt mit Texten wie „Du und ich und das Kontinuum“ oder „Terminal Beach“ Beispiele dafür vor. Aber das Problem, durch die Sprache immer ans „Irdische gefesselt“ (E.T.A. Hoffmann) zu sein, blieb bestehen. So erzählt „Terminal Beach“ letztlich doch ein Kontinuum: Ein Mann ist auf Eniwotek, einem der Atomversuchsatolle, gestrandet und verfällt allmählich. Dieser Verfall ist zwar in halluzinatorische Erzählabschnitte zergliedert, verläuft aber nolens volens linear. „Du und ich...“ hingegen verzichtet gänzlich auf Narrativität. Und das konnte Ballard, nachdem er das Verfahren ausgereizt hatte, nicht befriedigen.
Ab da kreisen seine Texte zunehmend um einzelne Sujets: um Überbevölkerung (in den Stories „Konzentrationsstadt“ oder „Billenium“), um idiotische Kriege („Kriegsfieber“ oder „Kriegsschauplatz“) und vor allem um den Massentourismus.
Den begreift Ballard als eine Art repressive Sozialtechnologie, mit wunderlichen Möglichkeiten. In „Colce far niente“, einer seiner bekanntesten (weil häufig anthologisierten) Kurzgeschichten, spendiert die englische Regierung potentiellen Arbeitslosen ein One- way-Ticket nach Mallorca, wo sie zu ewigem Batiken, Laienschauspiel und New-Age-Gedödel verdammt sind. Die Mehrzahl findet das ganz wunderbar. Für Ballard Beleg seiner Überzeugung, daß das dauernde Behämmern mit „virtuellen Realitäten“ die meisten Einwohner der westeuropäischen Länder in den Status von „Hirntoten“ überführt hat. Diese satirische Volte leitet sich von der Poetik ab, die Ballard anhand seines Skandalromans „Crash“ (1973) entwickelt hatte: „Wir leben in einer von Fiktionen aller Art beherrschten Welt – Massenproduktion, Werbung aller Art, Politik als ein Zweig der Werbewirtschaft ...die zunehmende Verschmelzung von Identitäten auf dem Gebiet der Konsumgüter, die Vorwegnahme jeder freien und originellen imaginativen Reaktion durch das Fernsehen. Die Fiktion ist bereits vorhanden. Aufgabe des Schriftstellers ist, die Realität zu erfinden.“
„Crash“, ein eklig abtörnender Anti-Porno über den Zusammenhang von Auto-Fetischismus und Sex, war der erste Roman dieses reziproken, ironischen „Virtualitätsprogramms“. Ballard wurde bissig: „Der Block“ (1975) ist ein bösartiger Roman über atavistische Energien der „Mittelschicht“ in schicken Wohntürmen, das „Pangbourne-Massaker“ (1988) eine giftige Etüde über den Zusammenhang von materiellem Wohlstand, Suburbs und purer Mordlust; und sein bis jetzt neuester, auf deutsch lieferbarer Roman „Weißes Feuer“ (1996) ist eine Variation dieser Themen mit kriminalliterarischen Mitteln. Ballards geliebte Mittelschichtler haben ihre Suburbs in England (er selbst war inzwischen zu Studienzwecken dahin gezogen) gegen sterile „Urbanizaciónes“ in Spanien eingetauscht. Der Hirntod herrscht allenthalben. Ballards „Rezept“ liegt voll gegen den Trend der Zeit: Er rät zum Verbrechen als vitale soziale Interaktionsform. Hübsche Morde, Raubüberfälle und Brandschatzungen heben die Lebensgeister.
Trotz seiner Hinwendung zu eher sujethaftem Erzählen bleibt seine Prosa aber geheimnisvoll. Die Texte, auch wenn noch so ungeheuerliche Dinge zur Sprache kommen, leben weiterhin von eben dieser Sprache. Von den im kalten Licht der Imagination festgefrorenen Bildern, von den regungslosen Landschaften und menschenleeren Ansiedlungen, von den eisigen Küsten unter heißer Sonne. Bei all der satirischen Verve, der Spottlust und den ätzenden Attacken auf den common sense ist Ballard nach wie vor nicht auszurechnen und zu vereinnahmen. Thesen lassen sich aus seinen Werken nicht destillieren. Er ist und bliebt ein Autor mit hoher Irritationskraft. Kein Wunder, daß all die literarischen Debatten und all die Exerzitien über die Krisen von Literatur einen Schriftsteller wie Ballard lieber gar nicht erst ignorieren wollen.
Texte von Ballard sind zur Zeit bei Goldmann und der Edition Phantasia (bibliophil gestaltet) erhältlich. Zu Ballard siehe auch: http:// www.edition-phantasia.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen