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Schluß mit der miesen Stimmung

Die russische Krisenstimmung verhindert Reformen. Das Volk braucht gute Nachrichten, damit es aus seiner Starre erwacht. Positive Entwicklungen gebe es schon, nur werde nicht darüber berichtet, meint eine wachsende Gruppe von Russen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Alle reden von der Krise in Rußland. Lidija Iwanowna Sorokina, die in Moskau Russisch für Ausländer lehrt, hatte kurz vor deren Ausbruch im August eine glückliche Eingebung. Zum ersten Mal in ihrem Leben war es ihr gelungen, die, wie sie fand, beträchtliche Summe von 1.500 US-Dollar zurückzulegen. Die wollte sie auf die Bank bringen. Auf dem Weg dorthin stach ihr im Fenster eines Reisebüros das Angebot für eine billige Spanienreise ins Auge. Und da fragte sich Lydija Iwanowna plötzlich, wie so viele andere ihrer Landsleute auch: „Warum soll eigentlich nicht auch ich mal nach Spanien fliegen?“ Gesagt, getan. In dem Mittelmeerland stellten die RussInnen vergangenes Jahr schon einen beträchtlichen Anteil der ausländischen Touristen.

Nach dem Verfall ihrer Währung werden die meisten von ihnen nächsten Sommer erst einmal im eigenen Lande bleiben. „Aber“, so Lidija Iwanowna, „die Erinnerung kann mir niemand mehr wegnehmen.“ Lidija meint, sie selbst und ihre Mitbürger hätten überhaupt in den letzten Jahren ihren Lebensstandard verbessert, und sie glaubt nicht, daß diese Errungenschaften über Nacht verschwinden. Genauso denkt auch der Moskauer Soziologe Danijl Dondurej (siehe Interview). Die Presse nennt ihn deshalb „Rußlands letzten Optimisten“. Trübt etwa das Ambiente der privilegierten Hauptstadt den beiden die Optik?

Tatsächlich ist der überraschendste Fortschritt im Rußland der letzten Jahre auf dem Lande erzielt worden. Die russischen Bauern haben in den letzten Jahren die Getreideproduktion immer weiter gesteigert – und dies praktisch ohne staatliche Hilfe und mit rückständiger Technik. 32 Jahre lang, von 1962 bis 1994, gab Rußland Milliarden Dollar aus, um Getreide im Ausland zu kaufen. Seit 1994 reichen die eigenen Vorräte. Vergangenen Sommer hat es zwar eine Mißernte gegeben, doch war der Überschuß immerhin so hoch, daß die noch im Lande lagernden Vorräte von etwa 20 Millionen Tonnen zur Überbrückung völlig gereicht hätten. Weil die Regierung dennoch wieder im Ausland eingekauft hat, können die russischen Landwirte nun zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Getreide exportieren.

Aus der Krise das Beste machen inzwischen auch die Geflügelfarmen. Vorläufig brauchen sie nicht mehr die Konkurrenz der US-Geflügelproduzenten fürchten. Parallel zur rasanten Produktionssteigerung versuchen sie ihren Kunden noch etwas Exotisches zu bieten. Im südrussischen Krasnodar züchtet das „Nordkaukasische Forschungsinstitut für Viehzucht“ seit Sommer 1998 Strauße. Die erste Versuchsgruppe von 30 Vögeln hat sich bereits bewährt.

Die Verminderung der westlichen Lieferungen gab auch den Blick frei auf die heute bereits große Vielfalt russischer Fruchtjoghurtsorten. Dies wiederum bewegt die westlichen Konkurrenten dazu, ihre Produktion nach Rußland zu verlegen. Ende November begann die deutsche Firma Ehrmann mit dem Bau einer eigenen Fabrik in Ramenski bei Moskau. Das holländische Unternehmen Campina will jetzt nachziehen.

Expansionspläne in Rußland hegt auch Ikea. Das „unmögliche Möbelhaus“ läßt sich durch nichts von dem Plan abbringen, im Jahre 2000 in Moskau den größten Ikea- Laden aller Zeiten zu eröffen. Der Krise zum Trotz boomt vom Pazifik bis an die polnische Grenze alles, was mit Inneneinrichtung und Renovieren zu tun hat. Es scheint, als entdeckten die RussInnen nach Jahren des Einheitsgraus endlich die Freuden individueller Raumgestaltung.

Allein die Stadt Moskau hat in jüngster Vergangenheit pro Jahr drei Millionen Quadratmeter Wohnraum zur Neubesiedlung fertiggestellt. Ein Drittel davon ging an sozial Schwache. Mit der munizipalen Bautätigkeit geht in der Hauptstadt die vielgehaßte, aber literaturträchtige Institution der Kommunalnaja Kwartira – der Zwangs-Gemeinschaftswohnung – ihrem Ende entgegen. Während sich 1960 noch eine Million Moskauer MieterInnen im Zentrum innerhalb des Gartenringes drängten, sind es jetzt nur noch 200.000.

Nicht nur die eigene Wohnung ist für die junge russische Stadtfamilie heute fast eine Selbstverständlichkeit. In Moskau kommen 2,4 Millionen Personenwagen auf 3,2 Millionen Familien. In den vergangenen Jahren erfolgte praktisch die Motorisierung des ganzen Landes. Insgesamt werden heute 17,5 Millionen Personenwagen gezählt, viele davon Billigst-Gebrauchtwagen aus dem Westen. Aber dank des schier unerschöpflichen russischen Reparaturtalents werden sie noch ein paar Jährchen fahren.

Und die Folgen für die russische Umwelt? Wo die Gefahr am größten ist, ist auch die Rettung am nächsten: Die Moskauer „Avantgarde“-Werke haben soeben eine Alternative zu den bisher im Westen gebräuchlichen Katalysatoren auf den Markt gebracht. Das Teil nennt sich „Ekos“ und soll nicht nur die schädlichen Autoabgase reduzieren, sondern auch die Effektivität des Motors erhöhen.

Wenn von Reinheit die Rede ist, darf die klassische russische Kultur nicht fehlen. Umgerechnet etwa 18 Millionen Mark wurden in dem sonst ärmlichen russischen Staatshaushalt für Feiern zum zweihundertsten Geburtstag des Dichters Alexander Puschkin reserviert. Daß Puschkin 1999 „in jede Familie kommt“, hat Kultusminister Vladimir Jegorow versprochen. Damit ist er zwar auch nicht Rußlands letzter Optimist, aber vielleicht sein größter.

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