: Schönheitsabende mit Olga
Eine Ausstellung im Kolbe-Museum beschreibt die Varietétänzerinnen der Jahrhundertwende als große Befreierinnen aus dem Korsett der Konventionen ■ Von Katrin Bettina Müller
Wenn die Beine schon nicht zu sehen waren, sollte man sie wenigstens hören. Sechzig Meter Spitze rauschten unter dem Rock von La Goulue (Die Gefräßige), Liebling des Moulin Rouge und Modell von Henri Toulouse-Lautrec. Auf einer Fotografie sieht man sie gebückt mit hochgeschlagen Röcken; doch die Belichtung kapitulierte vor dem Rüschenmeer weißer Spitze und zeigt einen schummrigen Fleck statt der erwarteten Sensation.
Viel mehr als die Fotografien der Varietaétänzerinnen, deren kokette Inszenierungen heute oft komisch anmuten, zeugen die perfekt komponierten Plakate von ihrer Verführungskraft. Schlangen umringeln den biegsamen Leib von Jane Avril, ein Spinnennetz umfängt Liane de Pougy, Flammen umzüngeln Saharet. Diese Muster der Stilisierung als Femme fatale kommen der zeitgenössischen Wahrnehmung wohl näher als das fotografische Material.
So gibt es kaum Dokumente, die zuverlässigen Aufschluß über das Bewegungsvokabular der legendären Berühmtheiten von einst geben; auch schriftliche Quellen heben schnell in begeisterten Sprachtaumel ab. Die reale Existenz der Tänzerinnen kann heute kaum noch aus den Klischees herausgeschält werden. In ebenso starkem Maße, wie die Verflechtung ihrer Biographien mit ihren Bühnenrollen zu ihrem Erfolg beitrug, verwischte sie ihre Spuren in der Tanzgeschichte.
Die Ausstellung „Varietétänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne“ will dagegen die These belegen, daß im Exotismus und der Erotik der Tanzstars erste Schritte zur Befreiung des Körpers aus dem Korsett der Konventionen möglich wurden. Das Fremde diente als Katalysator auf der Suche nach neuen Selbstbildern.
Eines der schönsten Beispiele vom Spiel mit dem Fremden zeigt Josephine Baker in Lederhosen. Sent M'ahesa, die aus Lettland stammte, pflegte das „altägyptische“ Genre, stets im Profil festgehalten, mit dem Haarhelm der Sphinx. Ihr „Tanz der Mondgöttin“ (um 1909) wurde als „eckig, geometrisch und hart“ beschrieben. Mit intensiven Studien der Ägyptologie versuchte die Tänzerin die Seriosität ihres Unternehmens zu belegen. Eine andere Strategie verfolgte Mata Hari, die ganz mit ihrer Rolle als indische Bajadere verschmolz. Sie sei in einem Tempel aufgewachsen und von Priestern in den Tanz eingeweiht, lautete ihre Legende.
In der Suche nach Alternativen zum akademischen Tanz begegnen sich Varietéstars und die Pionierinnen des Ausdruckstanzes. Teilweise verbindet sie die Betonung des Naturhaften: So hat La Belle Otero den Flamcenco qua Geburt im Blut. Letztlich sollte der bis ins Leben ausgedehnte Rahmen der artifiziellen Inszenierung den Varietétänzerinnen als ein Garant für die Authentizität ihres Tanzes dienen. Von Temperament und Emotionen statt von äußeren Regeln geleitet zu sein gehörte auch zum Glaubensbekenntnis der Ausdruckstänzer.
All diese Tänzerinnen traten solistisch auf und interpretierten keine Choreographien anderer Autoren. Ob der Hang zum Kultischen dabei auch als Bemühung verstanden werden muß, nicht mit dem zwiespältigen Milieu ihrer Auftrittsorte identifiziert zu werden, bleibt Spekulation. Ruth St. Denis, die ebenso wie Isadora Duncan und Loie Fuller aus den USA kam und in Europa ihren Erfolg begründete, ist auf einer Fotografie nur mit Schmuck bekleidet: Nacktheit im Gestus des Heiligen. Das antike Griechenland war dagegen die Spezialität von Olga Desmond, die bei ihren „Schönheitsabenden“ auf Sockeln posierte. Im Moment der Bewegung drohte die Veranstaltung verboten zu werden.
Dieses Schillern zwischen einer Begeisterung für Archaik, kolonialer Unverfrorenheit und den Finten einer Künstlerin, die zwischen wilhelminischen Verboten ihre spezielle Marktlücke fand, ist den meisten Inszenierungen eigen. Spätestens im Faschismus versuchte die Tanzmoderne das Image des Unseriösen von sich abzuspalten und ihren hybriden Ursprung zu vergessen.
Brygida Ochaim und Claudia Balk haben die Ausstellung für das Deutsche Theatermuseum in München erarbeitet. Im Kolbe- Museum Berlin ist sie um eine Abteilung mit Skulpturen Kolbes erweitert, der im Tanz Modelle für die Geometrisierung des Körpers und den expressiven Gestus fand.
Georg-Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25, Di.–So. 10–17 Uhr. Noch bis 11. April
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