: Zurück ins Unbekannte
■ Brecht-Schüler, Weltentdecker: Zum siebzigsten Geburtstag von Günter Kunert ist sein Gedichtband "Nacht Vorstellung" erschienen
Sprachreisen haben zum Ziel, daß man eine Fremdsprache erlernt. Gleichzeitig erlebt man das Land, Kultur, Menschen und Geschichte, die sich mit der Sprache verbinden. Daher sind Sprachreisen beliebt und gut gebucht. Sprachreisen in die eigene Sprache aber werden kaum angeboten – auf keinen Fall von Reisebüros oder internationalen Sprachschulen. Sie finden höchstens in Büchern statt, ihre Veranstalter nennt man Dichter. Auch hier lernt man Land und Leute kennen, vertieft sich in die Möglichkeiten und Vielfalt des Ausdrucks, lernt neue Vokabeln. Ihr besonderer Reiz liegt gerade darin, Neuland im scheinbar sattsam Bekannten zu entdecken.
Sprachreisen beinhalten Unterricht. Der epigrammatische Stil, der didaktische, zur Reflexion auffordernde Charakter, der die Lyrik des Brecht-Schülers Günter Kunert von jeher prägte, verlangt die wache Aufmerksamkeit des Rezipienten. Kunert verfaßt jedoch keine Lehrgedichte in dem Sinne, daß sie dem Leser den „rechten Weg“ weisen wollen. Poetische Erziehung ist kein Frontalunterricht. Vielmehr ist sie darauf angelegt, den Leser durch die Rezeption der Gedichte „Gottgleich“ werden zu lassen. Dichtung birgt die Aufgabe, die Welt hermeneutisch neu zu entwerfen. „Gottgleich“ ist dabei nicht menschliche Hybris, sondern die Perspektive des Kindes, das das Universum entdeckt: „Es war außerordentlich / klein und bewegte sich / in einem Lichtstrahl, / den die Gardine ins Zimmer ließ. / (...) / Und ich / blies meinen Atem / in die scheinbare Fülle, / wie Gott / es an meiner Stelle getan hätte.“ Wunderbar naiv wird noch einmal der prometheische Mythos zum Leben erweckt. Dem kindlichen Treiben entspricht das Schaffen des Künstlers. Er begegnet seiner Umwelt gleichermaßen staunend und gestaltend. Kunerts Texte zeigen ein Befremden gegenüber der Welt, so daß der Leser sich auf dieser Spur „heim ins nunmehr Unbekannte“ führen lassen kann, wie es im Titelgedicht heißt.
Heimkehr ins Unbekannte bedeutet für den heute vor 70 Jahren in Berlin geborenen Kunert, allzu vertraute Ansichten, Meinungen und automatisierte Reflexionsmuster aufzugeben. Politisch hat dies den Dichter mit der vom Naziregime „staatlich verpfuschten Kindheit“ zum Bruch mit dem Sozialismus der DDR-Regierung geführt. Der Mitunterzeichnung der Biermann-Petition gegen die Ausbürgerung des Liedermachers 1976 folgte drei Jahre später die Übersiedlung in die BRD.
Doch Politik, Denken und Sprache bilden eine Einheit. Das Gedicht „An einen ostalgischen Dichter“ umkreist den Punkt, an dem sich nostalgisches Erinnern und der Verlust von authentischer Sprache und individuellem Bewußtsein verschlingen: „Zwischen MEIN und DEIN und allgemein / hat DEINE Partei die Unterschiede / geschleift. Der Restbestand: / Das Kollektiv. Die Massen. / Das Proletariat. Die Neuen Menchen / Hintz und Kuntz. / Erstickt, Genosse, ist DEINE Stimme / an einer längst verrotteten Sprache.“ Der Sprache als Erinnerung müssen kreative Freiräume geschaffen werden, soll das Gedenken nicht zur sturen Wiederholung von Legenden degenerieren: „Von Dichtern gehegt, von Ahnungslosen / gepflegt: War doch alles gar nicht so / schlecht“, heißt es zur allerneuesten „Atlantis-Hypothese“. Dichtung aber will keine Mythen reproduzieren. Die lyrische Sprache transportiert vielmehr ein auf neue Erfahrungen ausgerichtetes Bewußtsein. Legenden zerfallen unter der Entdeckungslust poetischer Ausdeutung von Geschichte und Welt. Ein rückwärts gewandter, nostalgisch verschwommener Idealismus hält der Freiheit lyrischer Betrachtung nicht stand.
Dichtung ist geistig immer unterwegs. Günter Kunert ist in diesem Sinne ein Reisender. Die Stationen seiner Reise sind allerdings nicht beschränkt auf jene Gedichte, die unter der Überschrift „Unterwegssein“ versammelt sind. Auch „Im Abseits“, in der dörflichen, norddeutschen Wahlheimat Kunerts, schweift das literarische Denken umher. Noch das kleinste Motiv, der Blick aus dem Fenster, ein Gang durch den Garten wird auch dort Anlaß zum lyrischen Denkbild: „Maulwürfe / bringen Scherben von gestern / ans Licht (...) Das Abendland verstreut / seine Symbole großzügig / überallhin. / Selbst unter die Blinden.“
Bruchstücke von Geschichten und Geschichte finden sich in jedem Winkel. Die Melancholie spürt sie auf. In dreizehn „ländlichen Elegien“ durchstreift Kunert die umgebende Provinz. Doch Heimatidyllen entstehen nicht: „Schwärme diensteifriger Krähen / servieren mir lauthals zum Frühstück / ein Scherbengericht.“
Die Dichtung kittet nicht, was einmal in die Brüche ging. Aber ihr Festhalten am Zerstörten transportiert einen Sinn für Verlust, der im besten Fall Verantwortungsbewußtsein und einen behutsamen, liebevollen Umgang mit der fragilen Welt nach sich zieht. Kunert aber ist kein Optimist. Was immer man der Dichtung an utopischer Kraft zuschreiben wollte, er selbst steht dem mit tiefster Skepsis gegenüber: „Verhänge die Fenster. Vernagle die Tür. / Warte nur balde dringet / durch Ritzen und Spalten / die Terra cognita mächtig ins Haus.“ „Vergeblichkeit“ heißt das letzte Gedicht das Bandes. Rajan Autze
Günter Kunert: „Nacht Vorstellung“. Gedichte; Carl Hanser Verlag 1999, 104 Seiten, 26 DM
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