: Absurde Idyllen
Ilona Zioks Film über den tragischen Lebensweg des Berliner Regisseurs und Kabarettstars Kurt Gerron ■ Von Stefan Schmitt
In mildem Sonnenlicht liegen sauber gekleidete Kinder im Garten, essen Margarinebrote und lachen in die Kamera. Idylle, wo man nur hinguckt. Beinahe unmöglich war es, die Szene im Kinderhort zu drehen. „Bevor wir anfangen konnten, hatten die Kinder die Brote schon aufgegessen“, erinnert sich eine Zeitzeugin. Hunger, die Kinder waren hungrig. Margarinebrote hatten sie schon lange nicht mehr zu essen bekommen im Konzentrationslager von Theresienstadt.
Absurde Idyllen, ein zynischer Titel, ein perfider Propagandastreifen: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt.“ Gedreht wurde dieser Film von einem Gefangenen des KZs: Kurt Gerron, der in den Zwanzigern und Dreißigern ein großer Star des Berliner Kabaretts war. Ein Naziopfer wird gezwungen, Nazipropaganda zu machen. Seine tragische Geschichte ist heute fast in Vergessenheit geraten. Ilona Ziok hat sie recherchiert und einen Dokumentarfilm daraus gemacht: „Kurt Gerrons Karussell“, das Porträt einer Künstlerpersönlichkeit und ein Film über das grausame Schicksal eines Menschen.
Berlin 1928: Uraufführung der „Dreigroschenoper“ von Brecht und Weill. Zum ersten Mal hört die Welt die Moritat von Mackie Messer, es sollte ein Erfolg werden. Gesungen wurde sie von Tiger Brown, den der damals 31jährige Kurt Gerron spielt. Mit dieser Rolle wird er bekannt. Ab Ende der zwanziger Jahre führt er Regie in 8 Filmen und 6 Kabarettprogrammen. Kurzum: ein Allrounder des pulsierenden Nacht- und Kulturlebens der Weltstadt Berlin.
1933 war der Kultur- und Unterhaltungsbetrieb eine der ersten Branchen, aus der die Nazis alle jüdischen Bürger drängten. Gerron emigriert nach Paris, dann nach Österreich, schließlich 1935 nach Holland, wo er eine zweite Heimat findet.
Nach dem deutschen Einmarsch in den Niederlanden wird er ins Durchgangslager Westerbork gesperrt. Dort trifft sich die halbe Berliner Kabarettszene wieder – und macht Programm. „Die Leute, die nach Auschwitz am nächsten Tag gegangen sind, saßen einen Abend vorher in diesem Riesentheater und lachten sich tot“, erinnert sich die Schauspielerin Camilla Spira, die überlebte.
Eines Tages wird Gerron ins „Prominenten-KZ“ Theresienstadt abtransportiert. Dort baut er das Kabarett „Kurt Gerrons Karussell“ auf. Kleinkunst in Ausnahmesituation: Jeden Tag drohte die Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz. Dann das Angebot der SS: Gerron soll den Propagandastreifen über das menschliche KZ drehen und dafür die Freiheit bekommen. Doch noch bevor der Film fertig ist, wird er deportiert und im November 1944 ermordert.
Ilona Ziok gelingt es, Gerrons Leben fast ausschließlich aus Interviews nachzuzeichnen, wobei ihr ein englischer Historiker sehr zupaß kommt, der über Gerrons Schicksal forscht. Sonst sprechen Bekannte und Kollegen von der Bühne und aus dem Lager.
Besondere Stimmung verleihen dem gut einstündigen Film viele Chansons aus Gerrons Zeit und seinem Werk, interpretiert von Ute Lemper, Ben Becker, Max Raabe, Schall & Rauch – das eigentliche Juwel des Films, sofern man von so etwas sprechen kann. Denn „Kurt Gerrons Karussell“ ist schlicht die Illustration eines ungeheuren Kulturverlustes vor dem Hintergrund des Massenmordes. Ein geschichtliches Dokument.
„Kurt Gerrons Karussell“: Regie: Ilona Ziok, D, 65 Min., in den Kinos Filmkunst 66, fsk, Hackesche Höfe Soundtrack: „Kurt Gerrons Karussell“ bei Eastwest
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