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Teilrepublik Bergen

Der Bundestag entscheidet heute über mehr Soldaten für das Kosovo – die üben, Frieden zu bringen. Truppenbeobachtungen  ■ Von Heike Haarhoff (Text) und Marcus Höhn (Fotos)

Nur zwei Häuser im Dorf sind stehengeblieben. Das Gras davor steht wadenhoch. Aber die meisten, die hier Quartier bezogen haben, wissen ohnehin nicht, wie lange sie bleiben. Männer, die 30 oder 40 sein könnten, lungern herum. Drei Alte, einer mit schickem grauen Hut, spielen Karten. Frauen mit dunklen Röcken und Kopftüchern laufen schwatzend hin und her. Es ist früh am Nachmittag, und es ist heiß. Das erste, was sie aufschreckt, ist das dumpfe Donnern in der Ferne.

Als es näherrückt, laufen acht Männer zur Straße, wo das, was vom Dorf übriggeblieben ist, endet. In einiger Entfernung gräbt sich ein schwerer Militärpanzer direkt auf sie zu. Neugierige Halbwüchsige kommen nach, werden verscheucht. Tumult.

Nur der Alte mit dem Hut harrt an seinem Platz aus. Das gleiche Bild an der zweiten Dorfausgangsstraße. Sieben Panzer des Typs „Leopard“ und „Marder“ haben die Siedlung und den Wald dahinter umzingelt.

Eine Handvoll Soldaten stapft, der Zugführer voraus, auf die aufgescheuchte Menschenmenge zu. Da erhebt sich auch der Alte mit dem Hut. Der Zugführer hält ihn für den Bürgermeister, begrüßt ihn freundlich, erklärt, was seine Patrouille hier verloren hat: Jetzt, wo es Frieden gibt, sagt er, braucht keiner mehr Waffen und Munition. Deswegen will er wissen, ob sie sich im Dorf auch daran halten. Der Alte lacht, klopft dem Uniformierten auf die Schulter. „Nix Waffen hier, komm, Kaffee trinken!“ Kinder zupfen an den Splitterschutzwesten der fremden Soldaten – „du deutsch?“, Erwachsene umringen sie, drängeln sich an sie heran. „Erst mal gukken wir uns das Dorf an, später können wir vielleicht Kaffee trinken“, schlägt der Zugführer vor. Plappernd schiebt sich der Troß zu den Häusern. „Üüübung Unterbreeechung!!“

Das ist Oberstleutnant Pfeiffer. Zwei Worte, ein Befehl, der sie alle in die Wirklichkeit der Lüneburger Heide zurückholt. Die Gesichter unter den Frauenkopftüchern nehmen die Züge von Zeitsoldaten an, der Bürgermeister verliert seinen Akzent und findet in eine grammatikalisch korrekte Sprache zurück, der Zugführer wird zum Auszubildenden der 14. Panzergrenadierdivision „Hanse“.

Die schult seit Anfang Juni auf dem Truppenübungsgelände in Munster etwa 4.000 ihrer 20.000 Männer für einen „friedenssichernden Einsatz“ in Makedonien oder auch Jugoslawien, keiner weiß das so genau dieser Tage, sicher ist nur, daß der Zugführer noch viel zu lernen hat: Daß er niemals ins Dorf sich lokken lassen und dabei den Blickkontakt zu den Panzern verlieren darf, die die Zufahrten kontrollieren und ihn ja im Zweifel schützen. Daß sich Zivilisten und Soldaten nicht vermischen dürfen, weil man sonst „schon verloren hat“. Vielmehr, erklärt Pfeiffer, soll der Zugführer „das Vertrauen des Bürgermeisters oder des Dorfältesten oder des Gruppenanführers“ gewinnen. Erst wenn diese „lokale Autoritätsperson“ die herumwuselnden Dorfbewohner weggeschickt hat, sollen die Soldaten mit ihrer Waffen- und Häuserdurchsuchung beginnen. „Höchstmaß an Eigensicherung“ heißt diese Umsicht in der Sprache der Militärs.

Also dann – noch mal. Die ganze Übung von vorn.

Seit Tagen geht das schon so. Während auf dem Bonner Petersberg und in Makedonien europäische Außenminister, russische Sonderbeauftragte und serbische Generäle um die Interpretation eines Friedensvertrags für das Kosovo feilschen, weiß die Bundeswehr bereits, was auf sie zukommt: über kurz oder lang ein Einsatz im Kosovo, unter UN-Mandat allerdings und nur als friedenssichernde Truppe wie in Bosnien, so die allgemeine Einschätzung. Also wird frühzeitig trainiert. Und die spezielle Schulung, die mehrere Wochen dauert und die alle Soldaten ungeachtet ihres Rangs durchlaufen, bevor sie ins Ausland geschickt werden, ist ohnehin dieselbe – egal, ob der Bundestag heute beschließt, daß 8.500 Wehr-, Zeit- und Berufssoldaten Ende Juli nun das erste Kontingent in Makedonien ablösen oder tatsächlich ins Kosovo marschieren.

Sie sollen lernen, Ruhe zu bewahren, und – ganz wichtig – sich Respekt zu verschaffen. „Angsthasen“, droht Ausbildungsleiter Pfeiffer, „werden sofort durchschaut.“ Und davor will er „die vielen Einzelkinder, die bei Mama wohlbehütet aufgewachsen sind“ und auf dem Balkan „auf Schwerstverbrecher treffen, die jede Moral verloren haben“, bewahren.

Wie sowas geht? Da brüllt er fast: „Das erreichen Sie durch Haltung! Diktion! Körpersprache! Auftreten!“ An diesem Teil der Ausbildung nimmt die Presse nicht teil.

Wohl mitanschauen darf sie den Abschnitt, wo gelehrt wird, Checkpoints aufzubauen. Menschen zu entwaffnen und zu erkennen, daß auf Stöckchen gespießte Cola-Dosen am Wegesrand keine Picknick-Überreste sind, sondern eine international gültige Warnung, daß das Gelände dahinter vermint ist. Und daß, liegt in der Nähe auch noch ein ausgebranntes Autowrack, diese Warnung verdammt ernst zu nehmen ist.

Auf dem Übungsgelände geht es zu wie beim Laienschauspiel mit wechselnden Rollen. Mal schieben sich Männer im Grundwehrdienst die falschen Busen unter die T-Shirts, so normal, als seien niemals Videos von verkleideten Kameraden aufgetaucht, die in einer Kaserne Vergewaltigungen im Kriegsfall nachspielten. Mal überlegen sich Stabsgefreite, wie die Bevölkerung, die nach dem Krieg in die kosovarische Ruinenlandschaft zurückgekehrt ist, deutsche Soldaten wohl begrüßen würde: „Alles kapuuutt! Nix Holz, nix Essen!“

Und als wäre es der Wunderlichkeiten inmitten dieser norddeutschen Heidelandschaft nicht genug, erzählt Oberstleutnant Pfeiffer mit todernstem Blick, daß die „Heideländer Bevölkerung“ kürzlich in dieses verlassene Dorf gezogen sei. Davor hätten die inzwischen aus der Region abgezogenen „Heidelandstreitkräfte“ den Ort militärisch genutzt, er klingt, als grusele es ihn: „Wir sind hier übrigens in der Teilrepublik Bergen.“ Es gelte festzustellen, ob die Bevölkerung noch im Besitz von Waffen sei. Zudem seien Mitglieder einer zivilen Beobachtergruppe verschwunden. Pfeiffer muß dieses Szenario seinen Auszubildenden so oft erzählt haben, daß er es inzwischen selbst für Wirklichkeit hält.

Wie lange solche Zustände noch andauern könnten, hat Major Udo Gröbner, Pressestabsoffizier der 14. Panzergrenadierdivision, in seiner Neubrandenburger Amtsstube ausgerechnet. Weitere zehn Jahre, schätzt der Major, werden SFOR-Truppen allein in Bosnien gebraucht; 50 Jahre Blauhelmpräsenz gar könnte die „Sicherung der friedlichen Lage“ im Kosovo „durch KFOR“, wie die Truppen heißen sollen, benötigen. „Da können Sie sich ausrechnen, wie oft Sie drankommen“, seufzt der Major. Alle drei Jahre ein Auslandseinsatz ist für viele Soldaten mittlerweile die Regel.

„Es gibt gutes Geld dafür.“ Thilo Stangohr ist mit Begeisterung bei der Sache. Erst 24 Jahre ist der Stabsgefreite alt, ein Sechstel seines Lebens hat er bei der Bundeswehr verbracht, vor eineinhalb Jahren durfte er für die SFOR-Einheit in Bosnien Jeep fahren. „Sehr nett“ sei das gewesen, „sehr schöne Landschaften“, erinnert er sich, „gefährdet“ habe er sich selten gefühlt, der Krieg war ja aus. Und die Bevölkerung habe „immer gesagt, gut, daß ihr da seid, denn wenn ihr weg seid, holen wir wieder die Waffen raus“. Einen ähnlich freundlichen Empfang erwartet er sich nun im Kosovo.

Nur: Diesmal kommen die Jungs von der Bundeswehr als Mitglied eines Militärbündnisses, das zuvor Städte in Schutt und Asche gelegt, Kasernen, auch Brücken, Elektrizitätswerke, Krankenhäuser, Wohnbegäude zerbombt hat. Major Gröbner weiß, daß auf seine Soldaten schwierige Fragen zukommen werden. Er hat dafür gesorgt, daß sie durch Schulungen in „Landeskunde über Jugoslawien, Religion, Geschichte des Konflikts“ sensibilisiert werden. „Aber man muß sich nichts vormachen“, sagt er, „es war das erste Mal, daß Deutschland an Luftangriffen beteiligt war.“ Er überlegt, kommt zu dem Schluß „man kann nicht Mitglied des Bündnisses sein und immer nur nehmen, aber nichts geben“. Damit ist für ihn die Sache mit den Zweifeln an der neuen Rolle der Bundeswehr geklärt.

Im Halbschatten vor dem Kochzelt in der Lüneburger Heide, wo es mittags Tortellini gibt, sitzt Michael Breyel und erinnert sich, wie er schon immer Offizier werden wollte. Nur zwei aus seiner Jahrgangsstufe in Schwerin sind 1991 überhaupt zur Armee gegangen, die anderen 98 machten Zivildienst. „Dabei ist es wirklich ein schöner Beruf“, es sprudelt nur so aus ihm heraus, „man ist ständig an der frischen Luft, hat Kontakt zu Leuten, kann marschieren, studieren, schießen.“

Breyel, 27, hat sein Karriereziel bald erreicht; stellvertretender Kompaniechef ist er schon. An seiner Mütze prangt ein silberner Panzer. Den wird er in Jugoslawien eventuell nicht tragen können, aber daß er hingehen würde, „war keine Frage, nachdem wir den Auftrag bekommen hatten“. Schließlich, sagt er, „habe ich dafür die letzten acht Jahre Geld bekommen“. Seine Freundin sehe das auch so, „aber die Entscheidung, sie oder der Einsatz, hätte sie sowieso verloren“.

Nur „das Kribbeln“, gesteht Michael Breyel, „ist jetzt anders geworden“. Alle fragen sich, „wie schlimm“ es wohl wirklich sein wird im entvölkerten Kosovo, über das man viel weniger Informationen hat als beispielsweise vor Entsendung der ersten SFOR-Truppen nach Bosnien. Gefahr und Tod sind nähergerückt; über die schauspielerischen Ambitionen der „Heideländer Bevölkerung“ gibt es nicht einmal Scherze. Was in Munster geschieht, ist Ernst. Und seine Kollegen, stellt Breyel fast erstaunt fest, „interessieren sich jetzt viel mehr für Politik“.

Was ihn nur so ärgert, ist, daß er sich „seit der Nato-Lufteinsätze“ zunehmend genötigt sieht, „mich als Soldat zu rechtfertigen“. Breyel hat angefangen, seine Kritiker in Kneipen und im Bekanntenkreis zu meiden. „Oder ich frage zurück: Warum bist du Bäcker geworden?“ Denn für ihn ist die Bundeswehr, bei der er sich vor acht Jahren verpflichtete, keine grundsätzlich andere geworden seit dem 24. März. Da schaltet sich Oberstleutnant Pfeiffer ein. Seine Stimme schwillt an, und hätte er nicht den hinderlichen Helm auf dem Kopf, er würde sich wahrscheinlich vor Zorn die Haare raufen. „Passen Sie mal auf“, er wird eisig, „nicht wir, und auch nicht der Bundesverteidigungsminister, sondern der Souverän“, er holt tief Luft, „also die Bevölkerung hat uns den Auftrag erteilt, daß wir dahin gehen“. Der Blick fixiert sein Gegenüber. „Und es gibt nichts Schlimmeres, als wenn der Souverän sich von seinem eigenen Auftrag distanziert.“ Er sucht nach einem Vergleich: „Das ist so, als wenn Sie ein Kind aussetzen.“

Es ist frostig geworden in der Heide unter der warmen Junisonne. Zeit, mal wieder in der „Teilrepublik Bergen“ nach dem Rechten zu sehen. Der Souverän geht.

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