„Genosse Michel war klandestin“

Der franzözische Regierungschef, Lionel Jospin, will von seiner Vergangenheit in der trotzkistischen Bewegung nichts mehr wissen. Eine Verwechslung mit seinem Bruder gilt als ausgeschlossen  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Genosse Michel war einer von denen, die man nicht vergißt: Afrofrisur à la Bob Dylan, distingiert, proper, schlank und sportlich“, schreibt Patrick Dierich, der selbst Mitglied der trotzkistischen Organisation OCI war. Fast drei Jahrzehnte danach hat der Ingenieur jetzt seinen Kampfgefährten aus den konspirativen Jahren geoutet. „Genosse Michel ist kein anderer als Lionel Jospin. Daran besteht kein Zweifel“, erklärt er.

„Es ist doch keine Schande, ein Trotzkist gewesen zu sein“, begründet der Ingenieur Dierich, der bis in die 80er Jahre in der OCI (“Organisation communiste internationaliste“) blieb, seine späten Enthüllungen gegenüber der taz. Und er liefert gleich noch eine mögliche Erklärung für Jospins hartnäckiges Leugnen seiner Zugehörigkeit zur OCI: „Genosse Michel“ war klandestin tätig – im Auftrag der Trotzkisten.

Die inzwischen in einer anderen Organisation (die „Partei der Arbeiter“) aufgegangene OCI war eines der zahlreichen Spaltprodukte, die 1953 aus der trotzkistischen vierten Internationale hervorgingen. Die nach ihrem Gründer „Lambertisten“ genannten OCIler kämpften gegen stalinistische und gegen die reformistische „Verräter“; gegen die „bourgeoisen Regimes“, die die nationalen Befreiungsbewegungen in Kuba, Algerien und Vietnam errichteten, und für die internationale „Arbeitereinheit“. Die Studentenbewegung im Mai 1968 kritisierten die Lambertisten als „Abenteurertum“. Eine Spezialität der OCI war die Infiltration aller möglichen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen. Dierich: „Wir wußten, daß wir infiltriert waren, und wir infiltrierten die anderen.“ Wer wen infiltrierte, war den Genossen nicht bekannt. Bloß, daß sie es taten.

Als Dierich einmal Probleme wegen eines „schlecht gelaufenen Auftritts“ im Observatorium von Meudon hatte, sagte „Genosse Michel“ zu ihm: „Ich kann dir wegen meiner eigenen klandestinen Arbeit nicht helfen. Aber glaube mir, ich wäre lieber an deiner Stelle.“ Die in Trotzkistenkreisen „Entrismus“ genannte Taktik gelang Lionel Jospin besonders gut. 1971 – „Genosse Michel“ hatte damals in der OCI die Verantwortung für 15 in verschiedenen Zellen organisierte Militante – trat Lionel Jospin der Sozialistischen Partei (PS) eines gewissen François Mitterrand bei. Dort schaffte er binnen Monaten den Aufstieg in das internationale Sekretariat. Wenige Jahre später beauftragte Mitterrand ihn mit der Pflege der Beziehungen zur damals noch starken KPF, und noch vor dem Ende des Jahrzehnts war Jospin die Nummer zwei der PS.

Wann genau Lionel Jospin die OCI verließ, weiß Dierich nicht. Nur daß „der Meinungswechsel peu à peu“ verlaufen sein muß und „vermutlich 79 oder Anfang der 80er Jahre“ zum Austritt führte. Gleichzeitig näherte sich auch eine Reihe von anderen ehemaligen OCI-Militanten der Sozialdemokratie an, in der manche heute prominente Positionen haben.

Im Gegensatz zu vielen anderen Ex-Trotzkisten hat Jospin seine linksradikale Vergangenheit, die seit Jahr und Tag als offenes Geheimnis durch Paris zirkuliert, stets bestritten. Er gibt bloß frühe „Sympathien“ für die Trotzkisten zu und verweist ansonsten auf eine „Verwechslung“ mit seinem Bruder Olivier, der tatsächlich bis Mitte der 80er Jahre unter dem Kriegsnamen „Camus“ einer der Verantwortlichen der OCI war.

Der Ingenieur Dierich, der heute im öffentlichen Dienst arbeitet, lacht bloß über die angebliche Verwechslung mit dem Bruder, den er ebenfalls kannte. „Die beiden ähneln sich überhaupt nicht“, sagt er, „Lionel ist viel kleiner als sein Bruder. Und außerdem hat er sich fast gar nicht verändert. Er hat immer noch ein Verhalten, das nur Militante der OCI haben.“ Dierich, der seit den Enthüllungen von seinen Vorgesetzten im Observatorium von Paris auf seine „Zurückhaltungspflicht“ hingewiesen wurde, staunt darüber, daß die Medien sich erst jetzt für das Thema interessieren. „Das wissen alle möglichen Leute schon lange. Natürlich auch Jospins politische Feinde und die Geheimdienste.“

Aber aus dem Palais Matignon, in dem Lionel Jospin heute als Chef einer rot-rosa-grünen Regierungskoalition arbeitet und von wo aus er sich auf den erhofften Aufstieg in den Élyséepalast bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2002 vorbereitet, erhielt die taz trotz mehrerer Versuche keine Stellungnahme zu dem Outing des Ex-Genossen. Vielleicht auch das ein Erbe aus den klandestinen Jahren.

„Ich kann Dir wegen meiner eigenen klandestinen Arbeit nicht helfen. Aber glaube mir, ich wäre lieber an deiner Stelle.“