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Indizien für Mißbrauch

■  Bundesgerichtshof definiert Standards für Aussagegutachten in Verfahren gegen Kindesmißbrauch. Ist das Kind „kompetent“ genug, Sexualdelikte zu bezeugen?

Freiburg (taz) – Bei Prozessen um sexuellen Mißbrauch wird es künftig mehr Rechtssicherheit geben. Der Bundesgerichtshof (BGH) legte gestern Qualitätsstandards für Glaubwürdigkeitsgutachten fest.

Der BGH hat explizite Mindestanforderungen an aussagenpsychologische Gutachten aufgestellt, die einer Festlegung des Verfahrensablaufs bei Mißbrauchsprozessen gleichkommen. Danach soll zuerst die Aussage auf Indizien untersucht werden, die dafür sprechen, daß tatsächliche Erlebnisse und keine Erfindungen geschildert werden. Solche „Realkennzeichen“ sind etwa die ausschmückende Schilderung von Details oder die Mitteilung von Tatsachen, die den Beschuldigten entlasten.

In weiteren Schritten ist dann zu prüfen, wie konstant die Aussage im Verlauf des Verfahrens geblieben ist, und ob das Kind „kompetent“ genug gewesen wäre, sich eine derartige Aussage auszudenken. In Mißbrauchsfällen geht es dabei vor allem um das Sexualwissen von Kindern. Der Ausdeutung von Kinderzeichnungen sowie dem Spiel mit anatomisch korrekten Puppen mißt der BGH dabei allerdings „keine Bedeutung“ zu.

Zuletzt sind mögliche Fehlerquellen zu analysieren. Zu fragen sei dabei einerseits nach der möglichen Motivation des Kindes für eine Falschaussage, andererseits nach eventuellen Fremdeinflüssen. Wenn ein Kind durch Erwachsene beeinflußt wurde, sei eine Inhaltsanalyse der Aussage nämlich nicht mehr möglich. Das Kind integriere dann unter Umständen die Erwartungen der Erwachsenen in seine Erinnerung, ohne bewußt zu lügen. Gerade in Fällen sexuellen Mißbrauchs war immer wieder der Vorwurf suggestiver Befragungen erhoben worden. In solchen Fällen könne ein Gutachten nur noch die Entstehung der Aussage nachzeichnen, so der Bundesgerichtshof.

Neben den inhaltlichen Anforderungen an ein Gutachten forderten die Bundesrichter auch Transparenz und Nachvollziehbarkeit in der Darstellung, damit die Expertise im Streitfall überprüft werden könne. Von den Strafgerichten verlangt der BGH, daß sie sich mit fundierten Zweifeln an Aussagegutachten auch gründlich auseinandersetzen. Dies hatte das Gericht in Ansbach unterlassen, sondern nur pauschal auf die Sachkunde der Gutachterin verwiesen.

Zum Abschluß betonte der Senatsvorsitzende Gerhard Schäfer, daß ein Gutachten, „wenn es überhaupt erforderlich ist“, nur ein Indiz sein könne. „Die Entscheidung über die Glaubwürdigkeit eines Zeugen hat“, so Schäfer, „immer das Gericht zu treffen.“ (Az.: 1 StR 618/98) Christian Rath

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