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„Panikmache“ auf Kosten der Patienten

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung fordert die Ärzte zu einem Notprogramm zur Verschreibung von Medikamenten auf. Mediziner und Verbände halten das für ethisch nicht vertretbar  ■   Von Tina Stadlmayer

Berlin (taz) – „Ich verordne die Medikamente, die medizinisch notwendig sind – alles andere wäre unethisch.“ Hildegard Irmisch, Internistin und Hausärztin in Berlin-Kreuzberg, liegt mit der Höhe ihrer Verschreibungen deutlich über dem Durchschnitt. Sie lehnt das „Notprogramm“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), nach dem weniger Medikamente verordnet werden sollen, strikt ab: „Das ist Panikmache. Ärzte und Patienten werden verunsichert.“

Die Ausgaben für Arzneimittel auf Kassenrezept sind bundesweit gegenüber dem Vorjahr drastisch gestiegen. Plus 14 Prozent im Juni, so eine Hochrechnung der KBV. Das jährliche Budget wird wahrscheinlich fast überall überschritten werden. Für die Ärzte der betroffenen Regionen bedeutet das: Sie müssen allesamt Regress bezahlen. Deshalb will die KBV nun die Notbremse ziehen. Gleichzeitig will derBerufsverband die Patienten verunsichern und ängstigen, dass ihnen das eine oder andere Medikament verweigert wird. So soll öffentlicher Druck entstehen, der die Regierung zwingt, die Ausgabenlimits ganz abzuschaffen.

Doch diese Rechnung wird nicht aufgehen. Gesundheitsministerin Andrea Fischer bleibt eisern bei ihrer Meinung, dass die Ärzte zu viel verschreiben. Auch die meisten Mediziner und einige regionale Berufsverbände lehnen das „Notprogramm“ ab.

Derweil hat die KBV ihre 23 regionalen Vereinigungen mit „20 Fragen und Antworten zum geplanten Notprogramm“ versorgt. Sie schlägt vor, dass die Ärzte bis Jahresende nur noch Rezepte für „zwingend notwendige“ Medikamente ausstellen und Wartelisten für weniger notwendige Arzneien einführen. Zum Beispiel für Gicht- und Venenmittel. Außerdem sollen sie „konsequent“ von Originalpräparaten auf billigere Nachahmerprodukte umstellen und bei sehr teueren Therapien die Zweitmeinung eines Kollegen einholen.

Auch die Vertreter der Krankenkassen mahnen seit Jahren zum Sparen. Doch das „Notprogramm“ halten sie für Panikmache. Der Sprecher des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen, Udo Barske, geht davon aus, „dass die Ärzte dem Unsinn nicht folgen“. Die Kassen haben ihre Mitglieder aufgerufen, alle Mediziner zu melden, die sich weigern, notwendige Medikamente zu verschreiben. Nicht nur die Sprecher der Kassen, auch viele Ärztevertreter erregen sich über die Angstkampagne. Der Vorstand des Hausärzteverbandes kritisiert, dass das Programm „teils undurchführbar, teils rechtswidrig und in jedem Fall schädlich für das Ansehen der Ärzteschaft“ sei.

Selbst der neu gewählte Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, hält Wartelisten für bestimmte Medikamente „weder für sinnvoll noch für praktikabel“. Auch Michael Späth, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, ist skeptisch. Sein Kollege aus Brandenburg, Ralf Herre, berichtet, etwa die Hälfte der Kassenärzte in seiner Region lehne das Notprogramm als unethisch ab. Die anderen argumentierten, nur mit solch einem Programm könne das Dilemma mit den knappen Arzneimittelbudgets in die Öffentlichkeit gebracht werden.

Die Situation sieht bundesweit sehr unterschiedlich aus. Die Mediziner in den reicheren Regionen Hessen, Nord-Württemberg und Trier werden mit ihren Arznei- und Heilmittelbudgets wohl auskommen. Dagegen werden die Ausgabenlimits in Hamburg, Berlin und Brandenburg schon im November erschöpft sein. Die unterschiedlichen Töpfe wurden in der Vergangenheit von den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Landesverbänden der Krankenkassen ausgehandelt. Doch zum ersten Januar dieses Jahres kürzte die Gesundheitsministerin die Budgets um insgesamt eine Milliarde Mark.

Fischer sieht den Hauptgrund für die regionalen Unterschiede darin, dass die Ärzte in einer Region wirtschaftlich verordnen und in anderen mehr Rezepte ausschreiben als nötig. Ganz so einfach ist es nicht: In den großen Städten leben mehr chronisch Kranke, Aidsinfizierte und Drogensüchtige als in den Flächenstaaten. In Brandenburg sind viele Versicherte, weil sie sehr wenig verdienen, von der Zuzahlung zu Medikamenten befreit. Auch deshalb wird das Budget dort schneller überschritten.

Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg schrieb ihren Mitgliedern, jeder Kassenarzt werde am Ende des Jahres voraussichtlich 15.000 Mark Regress zahlen müssen. In Berlin hängen die Plakate der KBV in vielen Wartezimmern: „Verschreibt ihnen ihr Arzt Arzneimittel wie bisher, muss er bis ca. 13.000 Mark aus seiner Tasche dafür bezahlen“. Klar, dass Ärzte und Patienten verunsichert sind. Das Ungemach ließe sich für die Ärzte dadurch vermeiden, dass das „Notprogramm“ greift und im letzten Quartal deutlich weniger verschrieben wird als zuvor. Genau davor haben die Patienten Angst. Doch kaum ein Arzt wird das „Notprogramm“ konsequent durchziehen.

Der Hamburger Allgemeinmediziner Matthias Petersen sagt, er gebe sich „jetzt schon Mühe“, nur das zu verschreiben, was medizinisch notwendig ist“. Das Notprogramm der KBV hält er für „paradox“ – er werde sich nicht daran halten. Wie die meisten Ärzte sagt auch Petersen, dass es trotzdem nicht so weitergehen könne wie bisher: „Wir müssen uns überlegen: Was wollen wir uns noch leisten?“ In keinem Land würden die Kassen zum Beispiel so viel für Kuren bezahlen wie in Deutschland. Ein weiteres Problem sei die „unglaubliche Preisentwicklung“ bei den Medikamenten: „Die Kassen müssten mit der Pharmaindustrie über die Preise verhandeln.“

Das sieht der Bonner Allgemeinmediziner Heinz-Peter Romberg ähnlich. Es gebe „extrem teuere Pillen“, deren Herstellung ganz billig sei. Romberg berichtet, dass die Pharmafirmen den Krankenhäusern kostenlos Markenpräparate zur Verfügung stellen. Viele Patienten erwarteten von ihrem Arzt, dass er ihnen nach der Entlassung genau diese Medikamente weiter verschreibe. Im Gegensatz zu seinem Hamburger Kollegen gibt Romberg zu, dass „das Rezepteschreiben manchmal etwas schnell geht“. Deshalb fände er es gut, wenn die Kassen jedem Arzt eine Statistik vorlegten, wie viel er im Quartal verschrieben hat.

Ein Berliner Hausarzt, der nicht mit Namen genannt werden will, zieht ganz anders vom Leder: „Es gibt Kollegen, die verschreiben auf Teufel komm raus und reißen uns damit alle in den Regress mit rein.“ Er selbst sei dazu übergegangen, bestimmte Salben, „die zwar gut helfen, aber teuer sind“, nicht mehr zu verordnen. Der Spezialist weiß aber auch, wie die Patienten darauf reagieren: „Sie gehen zu einem anderen, der ihnen das Zeug dann verschreibt.“

Seine Berliner Kollegin Hildegard Irmisch wurde vor drei Jahren zu Regresszahlungen verdonnert. Sie musste 7.000 Mark berappen, weil sie deutlich mehr verschrieben hatte als ihre Kollegen. Die Vertreter der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung hatten ihre Begründung für die Mehrausgaben nicht akzeptiert. Hildegard Irmisch kann das nicht verstehen: „Selbstverständlich achte ich auf die Preise.“ Sie behandle viele Drogenabhängige mit Methadon. Die meisten Süchtigen hätten Begleitkrankheiten wie HIV- und Hepatitis-Infektionen: „Ich kann diesen Patienten die notwendigen Medikamente doch nicht vorenthalten.“

„Wartelisten für bestimmte Medikamente sind weder sinnvoll noch praktikabel“, meint Jörg-Dieter Hoppe

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