Ankunft durch die Hintertür

Seit gestern wird die Bundesrepublik von Berlin aus regiert. Außer den grünen Ministern Joschka Fischer und Jürgen Trittin bezog der Kanzler sein neues Büro. Zur Begrüßung gab es Torte vom Regierenden Bürgermeister   ■  Von Ralph Bollmann

Der Außenminister kam durch die Hintertür. Ein Baufahrzeug versperrte den Weg, als sich Joschka Fischers Dienstwagen gestern mittag, kurz nach zwölf, dem neuen Amtssitz näherte. Auch als der Ankömmling dem Gefährt entstieg, hatte er kaum Spektakuläres zu verkünden. Was er sich denn von der ersten Arbeitswoche der Bundesregierung in Berlin erwarte? „Über Erwartungen soll man nicht reden, die hat man.“

Ob er sich wenigstens über den Umzug von Bonn nach Berlin freue? „Ja, selbstverständlich“, krächzte Fischer mit gewohnt griesgrämiger Miene, die von Freude wenig verriet. Flugs verschwand der Minister, von seinen Berliner Parteifreunden zur Begrüßung mit einer Tagesration Obst ausgestattet, im Eingang Unterwasserstraße 10.

Zur gleichen Zeit wie Fischer bezog auch der grüne Umweltminister Jürgen Trittin, der seine Beamten größtenteils in Bonn zurücklässt, den „zweiten Dienstsitz“ in Berlin. Er musste sich am Alexanderplatz, rund einen Kilometer weiter östlich, von seinem Berliner Ressortkollegen Peter Strieder (SPD) mit einem grünen Kaktus empfangen lassen. Nur Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst wurde am Nachmittag vom Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) persönlich in Empfang genommen – ganz konventionell mit einer „Berliner Begrüßungstorte“.

Seit gestern also wird die Bundesrepublik von Berlin aus regiert. Ein großer Tag jedoch war dieser Montag nicht. Keine Spur von jener Begeisterung, mit der die Berliner im Frühjahr den Reichstag gestürmt hatten. Von den metropolitanen Zukunftsträumen, die einst die Hauptstadt-Entscheidung des Bundestags begleitet hatten, redet niemand mehr. Still geworden ist es aber auch um die apokalyptischen Visionen von einer unwirtlichen Hauptstadt eines großgermanischen Reichs.

Die Akteure stellen Bescheidenheit zur Schau. Zwei Fenster nur zählt das kleine Büro des Außenministers im dritten Stock jenes martialischen Klotzes, den die Nationalsozialisten einst für die Reichsbank gebaut hatten, bevor er dem SED-Zentralkomitee als Domizil diente. Nach dem Umbau atmen die Räume die alte Bonner Bescheidenheit. Nur die Kulissen ändern sich, so scheint denn auch Fischers Botschaft zu lauten, ansonsten herrscht business as usual. „Sie sehen, es geht in Berlin gerade so weiter wie in Bonn“, sagte der Außenminister.

Wahrscheinlich hat er damit sogar recht. Allzu hoch gesteckt erscheinen die Erwartungen, in der neuen Hauptstadt werde die politische Klasse endlich mit der Realität des Landes konfrontiert. Schon immer war Berlin eine Stadt, in der sich die verschiedenen Milieus gut aus dem Weg gehen konnten – schon weil die Stadt kein Zentrum hat. Ein Politiker, der sich allmorgendlich per Dienstwagen aus den westlichen Villenvororten ins Büro transportieren lässt, wird kaum je einem Ureinwohner der kriselnden Innenstadtbezirke begegnen. Auch die Hoffnung, die versammelten Bundespolitiker würden sich von nun an allabendlich ins Berliner Kulturleben stürzen, dürfte sich als irrig erweisen. Dazu haben sie schlichtweg keine Zeit.

Wenn es so etwas gibt wie eine „Berliner Republik“, dann hat sie nicht gestern begonnen, sondern schon lange zuvor – spätestens mit der zurückliegenden Bundestagswahl, die endgültig Politiker der Nachkriegsgeneration in die entscheidenden Positionen brachte.

Umgekehrt ist die Stadt viel zu groß, um sich durch den Zustrom von ein paar tausend Beamten sogleich aus der Ruhe bringen zu lassen. Die großen Veränderungen sind auch hier schon längst im Gange. Das alte Westberlin ist unübersehbar auf dem absteigenden Ast. Wer nicht als hoffnungslos altbacken gelten will, wird sich hüten, eine Geschäftsadresse am immer noch teuren Kurfürstendamm auf seine Visitenkarte drucken zu lassen.

Gleichwohl sitzt in der Lokalpolitik die alte Politikerkaste aus Westberliner Frontstadtzeiten fester im Sattel denn je. Da erscheint es geradezu wünschenswert, wenn sich die Ankömmlinge aus Bonn von ihrer neuen Umgebung nicht allzu sehr beeinflussen lassen.