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Zustände wie in Halberstadt

Standort Deutschland (4): Nach 40 Jahren Stille wittern die Halberstädter den Aufbruch. Leisten kann man sich den neuen Wohlstand bei 21 Prozent Arbeitslosen immer noch nicht  ■   Von Thomas Sakschewski und Stefanie Bürkle

eben den privaten Rezepten der Bürgermeisterin von Halberstadt, Ute Gabriel, findet man im kulinarischen Lesebuch „Halberstadt kocht weiter“ ein Bild aus einem Micky-Maus-Heft der 60er Jahre. Da sitzt Donald Duck und beteiligt sich an einer Ausschreibung zum besten Werbereim für Halberstädter Winteräpfel. Den Wettbewerb verliert die Ente mit dem Reim „Wer keine weiche Birne hat, kauft harte Äpfel aus Halberstadt.“

Im Westen wurde bis zur Wende kaum mehr als dieser schlichte Zweizeiler über die Stadt in Sachsen-Anhalt verfasst. Anlass genug für die Bürgermeisterin der 43.000 Einwohner zählenden Gemeinde, zu recherchieren. Die Texterin hat sie ausfindig gemacht. Doch die konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wieso sie „Halberstadt“ auf „Birne hat“ enden ließ. Mit Würstchen hätte die Texterin im Osten den Reim stabbrechen müssen. Die Halberstädter Würstchen gehörten einst zur Volksernährung der DDR. 12.000 Tonnen konservierte Fleischwaren im Naturdarm wurden bis 1989 jährlich in der Halberstädter Würstchen- und Konservenfabrik produziert. Heute verlassen deutlich weniger Dosen und Gläser das Werk. Aber einer Umfrage des Herstellers zufolge kennen in den neuen Bundesländern auch heute 98 Prozent der Befragten Halberstädter Würstchen. Und noch immer ziehen 50 Prozent von ihnen Würstchen aus Halberstadt jedem Westwürstchen vor.

Die Stadt selbst ist weniger berühmt gewesen, denn Halberstadt im Nordharz galt selbst für DDR-Verhältnisse als beispielhaft unattraktiv. Zustände wie in Halberstadt, das war eine Redewendung – früher. Halberstadt war eine Stadt ohne Zentrum. Nach schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg sollte Halberstadt auf den Ruinen der alten Domstadt nach dem Muster sozialistischer Planung wieder auferstehen. Die Trümmer des Rathauses und des bürgerlichen Stadtzentrums wurden planiert, um Platz zu schaffen für eine neue Mitte. Eine Innenstadt, die so nie gebaut wurde. Devisen fehlten, denn alle verfügbaren Mittel benötigte die Staatsmacht für die Erneuerung der Hauptstadt der DDR, für Berlin.

Das Herz von Halberstadt blieb eine große, unwirtliche Wiese. Die Plattenbauten, die die Einöde in der Mitte umstellten, wurden saniert. Die Trabis sind verschwunden, die Westautos in Parkhäuser verbannt, und wo noch vor zwanzig Jahren Schafe weideten, können die Halberstädter heute im Einkaufszentrum shoppen.

In nur 18 Monaten Bauzeit wurde das neue Zentrum von Halberstadt aus dem Boden gestampft. Ein privater Investor, die Wert-Konzept aus Berlin, hat nach langwierigen Verhandlungen mit der Stadt das Einkaufszentrum und das Rathaus hochgezogen. 280 Millionen Mark sind in der neuen Mitte von Halberstadt verbaut worden: Wohnen, Einkaufen und Verwaltung. Häuserfronten mit unterschiedlichen Farben und variantenreichen Fassaden begrenzen den Platz. Die neuen Gebäude folgen den früheren Straßenzügen, schaffen Sichtachsen und Plätze wie vor den Zerstörungen. Das Rathaus dagegen soll an längst vergangene Zeiten erinnern, als Halberstadt noch ein bedeutender Handelsplatz der Hanse war.

Eine Schmuckfassade ist dem Verwaltungsgebäude vorgestellt. Ursprünglich hatte der Architekt Christof Halleger auch hier eine moderne Fassade vorgesehen, doch er „hat sich eines Besseren belehren lassen, weil das Halberstädter Rathaus in der Form für die Halberstädter eine wirkliche Identifikation gewesen ist“. So sehr Symbol eines städtischen Selbstbewusstseins, dass die Mehrkosten für die historisierende Sandsteinfassade von der Stadt und aus Spendengeldern getragen wurden.

Das Rathaus selbst finanzierte der Investor. Die Stadtverwaltung ist nur Mieter. Am 3. Oktober 1998 wurde das Zentrum von Halberstadt feierlich eröffnet. Zu tausenden strömten die Halberstädter damals in das Zentrum, das sie bis dahin nur als Autoabstellplatz kannten. Johann Peter Hinz bestaunte an diesem Tag – wie alle anderen – die wieder gewonnene Innenstadt. Der Bildhauer und Nachwendepolitiker gehörte in Halberstadt zu jener kleinen Gruppe, die im Spätherbst 1989 für mehr Demokratie auf die Straße ging und sich später im Neuen Forum organisierte.

Im ersten Jahr nach der Wende galten die DDR-Gesetze nicht mehr und die der Bundesrepublik noch nicht. Was die Verwaltungsbeamten aus dem benachbarten Bundesland Niedersachsen in Halberstadt vorfanden, war eine beschäftigungslose Stadtverwaltung und in Amtsangelegenheiten unerfahrene Forumsmitglieder wie Johann Peter Hinz. Dieser macht kein Hehl daraus, dass die ersten Berührungen mit der Westverwaltung nicht reibungslos verliefen: „Da kamen also die Stadtbauräte her und wollten uns helfen. Was ihr braucht, sagten sie, dass ist erst mal eine vernünftige Verwaltung. Und ich dachte, was haben die Ahnung. Was brauchen wir denn eine Verwaltung, wir brauchen Ziegel, und wir brauchen Material, damit das, was in der Stadt desolat ist, erst mal wieder auf Vordermann gebracht werden kann.“

Johann Peter Hinz ist ein Praktiker, der nach all den Jahren, in denen er zusehen musste, wie seine Stadt zerfiel, endlich anpacken wollte, doch statt Bauholz kamen Bauvorschriften. Trotz dieser Anlaufschwierigkeiten gelang Johann Peter Hinz und seinen Mitstreitern ein kleines Kunststück: Ihr Antrag auf Unterstützung durch das Städtebauministerium erhielt die Registriernummer 1.

Halberstadt, das der DDR-Regierung als Musterbeispiel sozialistischen Städtebaus galt, sollte damit erneut eine Modellstadt werden. Ein Modell für den Aufbau Ost. Seit April 1990 gehört Halberstadt zu den fünf Modellstädten in den neuen Bundesländern, bei denen „beispielhaft eine behutsame Stadterneuerung ermöglicht werden soll“, wie es in den Richtlinien des Programms heißt. Für Halberstadt bedeutete die Finanzspritze Rettung in letzter Minute. Nicht nur für das Zentrum: Halberstadt ist durch den „Hohen Weg“, eine breite Verkehrsachse, zweigeteilt: Auf der einen Seite der Marktplatz mit dem Rathaus und auf einer kleinen Anhöhe gegenüber der Dom zu Halberstadt. Unterhalb des gotischen Bauwerks liegt die Altstadt.

Hier stand nach 40 Jahren DDR-Aufbau nur noch die Hälfte aller Altbauten. Vornehmlich Fachwerkhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Rücksichtslos wurde Platz für Plattenbauten geschaffen, was nicht von selbst zusammenfiel, blieb leer und wurde dem Zerfall preisgegeben. Ganze Häuserreihen waren zugemauert wegen drohender Einsturzgefahr. Nur noch wenige, meist alte Menschen lebten in halb verwitterten Häuschen. Heute ist in der Altstadt vom politisch gebilligten Verfall in der DDR-Zeit kaum mehr etwas zu sehen. Wenn auch im Altarbereich des Doms noch Granitplatten und Stahlmatten herumliegen, so kann der einstige Bischofssitz doch wieder besichtigt werden. Die schmalen Straßen unterhalb des Domplatzes sind neu gepflastert. 700 Häuser, Bauwerke und Denkmäler wurden seit 1990 mit Unterstützung aus dem Modellstadtprogramm saniert. 134 Millionen Mark an Fördermitteln und 540 Millionen an privaten Geldern flossen in die Bauvorhaben. Der privaten Initiative der Hauseigentümer ist es zu verdanken, dass in Halberstadt einer Mark aus Fördermitteln fünf Mark aus privater Hand gegenüberstehen.

Damit die Hauseigentümer nicht schon vor Abschluss der Sanierung aufgeben, schreibt die Stadt Jahr für Jahr einen Fassadenwettbewerb aus. Seit 1993 werden die hervorragenden Fassaden von Halberstadt prämiert, „um den Bürgern und Bauherren auch eine Ehre zukommen zu lassen“, wie der Architekt Christof Halleger meint. Jedes zweite Haus schmückt denn auch eine Auszeichnung für „die Harmonie von Formen und Farben“, wie die Wettbewerbsunterlagen erläutern. Die Plaketten, stolz neben den Haustüren angebracht, ähneln den „goldenen Hausnummern“, die früher an besonders aktive Hauskollektive verliehen wurden. So harmonisch die Farbgestaltungen der Fassaden auch sein mögen, sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich viele der Halberstädter die frisch sanierten Wohnungen gar nicht leisten können. Mehr als die Hälfte lebt weiterhin in den Plattenbausiedlungen rund um das neue Zentrum.

Mit einer Arbeitslosenquote von 21 Prozent liegt Halberstadt im Durchschnitt, im Durchschnitt des Landes Sachsen-Anhalt. Wie bei fast allen Städten und Gemeinden in den neuen Bundesländern haben auch hier die meisten Industriebetriebe in den letzten Jahren dichtgemacht, wie die erst kürzlich zum zweiten Mal in Konkurs gegangene Harzbrauerei. Andere Unternehmen, wie der älteste Lack- und Farbenhersteller Deutschlands oder die Halberstädter Würstchen- und Konservenfabrik, beschäftigen heute weit weniger Mitarbeiter als in Zeiten der Planwirtschaft. „Stadtverwaltung“, sagt die Bürgermeisterin Gabriel, „kann letztlich keine Arbeitsplätze schaffen, Arbeitsplätze schaffen können nur Industrie oder Handel. Wir bemühen uns, den Boden zu bereiten, um Leute zu locken, dass sie Lust haben, hierher zu kommen. Wir haben zwei, drei Gewerbegebiete und ein Industriegebiet. Die Gewerbegebiete sind ganz gut gefüllt, nicht nur mit Handel, sondern auch produzierendem Handwerk und Betrieben. Aber auch diese neu entstandenen Arbeitsplätze – das sind so 20.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze – konnten natürlich nie das auffangen, was an Großindustrie weggebrochen ist, und das werden wir auch in Zukunft nicht schaffen.“

Arbeitslosigkeit hat für die Bürgermeisterin in erster Linie eine menschliche Dimension, von abstrakten Zahlen redet sie nicht gern. „Die Leute, die arbeitslos sind, fühlen sich wertlos, und Bürger, die sich wertlos fühlen, sind keine, die jetzt aktiv mitgestalten.“ Mitgestalten – dieser Begriff aus der Nachwendezeit ist eine Lieblingsvokabel von Ute Gabriel und nicht nur von ihr. In Halberstadt sitzen an allen wichtigen Positionen Menschen, die vor der Wende in oppositionellen Kreisen aktiv waren. Im Neuen Forum wurden aus den Verbindungen enge Beziehungen, die bis heute bestehen.

Die Freunde aus der Wendezeit treffen sich auf der Dachterrasse des aus Braunschweig zugezogenen Architekten Christof Halleger und Herausgebers des in limitierter Auflage gedruckten kulinarischen Lesebuchs „Halberstadt kocht weiter“. Hier werden Pläne geschmiedet wie beispielsweise für die Aufführung eines Stückes von John Cage: „As slow as possible“ soll in der ältesten Kirche von Halberstadt aufgeführt werden, und weil das Werk so langsam wie möglich gespielt werden soll, denkt man in Halberstadt an eine Aufführungsdauer, die der Lebenszeit einer Orgel entspricht. Das sind nicht weniger als 639 Jahre. Die Bürgermeisterin hofft, dass die Langspielversion des Musikstücks zu einer Attraktion in Halberstadt wird, wenngleich es dauern wird, bis ungefähr im Jahr 2040 oder 41 die erste Note von „As slow as possible“ ertönt. Die Wartezeit schreckt die Bürgermeisterin nicht. Nach 40 Jahren Stillstand ist der Wille, Halberstadt voranzubringen, kaum zu dämpfen, und das betrachtet Ute Gabriel auch als das eigentliche Modell in dieser Modellstadt eine knappe Autostunde südlichwestlich von Magdeburg.

Ihr Rezept für Umzügler in „Halberstadt kocht weiter“ ist denkbar einfach. Man nehme fünf Büchsen Linsen mit Suppengrün, zwei Dosen Halberstädter Würstchen und eine große Packung Spätzle. Dann müsse man nur noch in den Umzugskisten nach Tellern, Löffel und Dosenöffner suchen, schreibt sie.

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