piwik no script img

Eichmann war ein Normopath“

■  1961 wurde Adolf Eichmann in Jerusalem zum Tode verurteilt. Von seinem Prozess existieren insgesamt 350 Stunden bisher unveröffentlichtes Filmmaterial. Der junge israelische Regisseur Eyal Sivan verwendete Teile davon für seine Dokumentation „Ein Spezialist“

Adolf Eichmann hat von seinem Büro in Berlin aus die Deportation der Juden in die Konzentrationslager organisiert. Sein Bild vor Augen, sprach Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 von der „Banalität des Bösen“. Seitdem ist Eichmann der Inbegriff des Bürokraten, der „auf Befehl“ vom Schreibtisch aus mordete. Das kann man wissen, und doch bereitet es niemanden darauf vor, diesen Mann zu sehen. „Ein Spezialist“ ist ein Film aus Originalaufnahmen, die während des Prozesses in Jerusalem entstanden sind. Unermüdlich betont Eichmann, dass er nur auf Befehl gehandelt habe. Lächerliche Ausrede? Man muss hören und sehen, wie Eichmann dem Gericht die Wannseekonferenz beschreibt, auf der die „Endlösung“ beschlossen wurde: Am Ende hätten einige Teilnehmer zusammengestanden und mit einem Gläschen Cognac gefeiert. Er, Eichmann, sei mit dem Protokoll beschäftigt gewesen und habe das Gespräch nur am Rande mitbekommen. Doch habe er verstanden, dass die Herren gänzlich unverblümt über die Auslöschung der Juden sprachen. Das gibt er offen zu, und dann: „Ich erinnere mich vor allem deshalb daran, weil ich dachte, schau, schau, der Stuckrad, den ich immer für so einen heiklen Gesetzesonkel gehalten habe.“ Über das, was da gesagt wurde, dachte Eichmann keine Sekunde nach. Hätte er darüber nachgedacht, dann hätte er es kaum zugegeben. Er hatte zu gehorchen, ob er nun wusste oder nicht.

Das ist alles nicht neu, jedoch in der Dokumentation „Ein Spezialist“ zum ersten Mal als Prozessverlauf nachzuvollziehen. Eyal Sivan hat sein Filmmaterial stark bearbeitet. Über die Gründe für diese Bearbeitung, die im Film nicht ersichtlich sind, äußert er sich im Interview.

taz: Ihr Film ist aus 350 Stunden Originalfilm geschnitten, der während des Eichmann-Prozesses 1961 in Jerusalem aufgenommen wurde. Das Material galt als verschollen. Wie haben Sie es gefunden?

Eyal Sivan: „Ich arbeitete gerade im Archiv der Hebräischen Universität Jerusalem. In einem Regal sah ich einige Videokassetten, auf denen stand: Eichmann-Prozess. Als ich nach Paris zurückkam, wo ich seit 14 Jahren lebe, erzählte ich einem Freund davon, Rony Braumann, der mit mir am Film gearbeitet hat. Er sagte: Oh, du musst „Eichmann in Jerusalem“ lesen von Hannah Arendt. Ich kannte das Buch nicht, weil es nie ins Hebräische übersetzt worden war, kein Buch von Hannah Arendt ist je ins Hebräische übersetzt worden. Sie ist in Israel unbekannt, eine Persona non grata. Ich las das Buch, und dann entschieden wir uns, einen Film daraus zu machen, eine Adaption. Wir gingen also zu dem Archiv, das „Steven Spielberg Jüdisches Filmarchiv“ heißt.

Gehört es zur Spielberg Foundation?

Nein, es heißt nur so, weil er Geld dazu gegeben hat. Wir fragten sie nach den Original-Eichmann-Aufnahmen, und nach langem Hin und Her führten sie uns zu den unbenutzten Toiletten der Universität. Da lagen die Bänder. Die Toiletten waren die einzigen Räume, die klimatisch zur Aufbewahrung geeignet waren. Ursprünglich waren es 500 Stunden Film, aber es waren nur noch 350 Stunden übrig. Der Rest, vor allem Zeugenaussagen, war verschwunden. Wir haben die 350 Stunden dann auf Digital Beta übertragen.

In welchem Zustand waren die Bänder?

In einem sehr schlechten. Die Bilder waren grau und vor allem völlig ungeordnet. Statt mit unserem Film anzufangen, haben wir das Material erst mal archiviert. Das war seit 35 Jahren nicht mehr geschehen.

Wie konnte das passieren? Warum hat sich niemand um das Material gekümmert?

Es gibt zwei hypothetische Antworten. Die erste ist: bürokratische Dummheit. In den 70er-Jahren hatte man etwa 70 Stunden aussortiert, und das war genug für die Leute, die Ausschnitte für Dokumentarfilme brauchten. Niemand interessierte sich mehr für die Originalbänder. Die zweite Antwort ist: Das Gedächtnis hat die Geschichte ersetzt.

Wie ist die Erinnerung an den Prozess in Israel?

Wir sahen Bilder von den Opfern, den Überlebenden, und Eichmann in der Glaskiste, stumm. Das Monster und seine Opfer. Das war genug. Die Erinnerung ist: Eichmann hat im Prozess nicht gesprochen. Aber plötzlich spricht er. Die Erinnerung ist: Eichmann hat gelogen. Ich glaube, Eichmann hat die Wahrheit gesagt.

Sie haben 350 Stunden auf zwei Stunden zusammengeschnitten und die Bilder zum Teil manipuliert ...

Nicht zum Teil, wir haben sie komplett manipuliert. Ich wollte ein Gerichtsdrama machen. Und ich wollte einen Film über Gehorsam, Verantwortung und modernes Management machen. Im Prozess in Jerusalem 1961 war Eichmann nur zweitrangig. Es war vor allem ein Prozess, in dem der Zionismus den Nationalsozialismus verurteilt hat. Es ging um die ganze Geschichte des Antisemitismus, den ganzen Nationalsozialismus, die ganze Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden. Uns interessierte nur, was Eichmann getan hat, nicht was die Nazis getan haben. Wir haben darum nur die Stellen verwendet, die Eichmanns Arbeit in der Verwaltung betraf. Und wir haben die chronologische Ordnung verändert. Wir wollten ein Maximum an Daten, Orten, Namen, um die Person Eichmann in den Fall Eichmann zu verwandeln. Denn dies sollte kein Film werden über Adolf Eichmann, geboren 1906 in Solingen als Sohn des Karl Eichmann. Unser Thema war: Verantwortung und Gehorsam. Noch ein anderer Punkt war für uns wichtig. Wir glauben, Eichmann hat vor Gericht die Wahrheit gesagt. Wir nehmen seine Verteidigung und wenden sie als Anklage gegen ihn. Das ist nicht die Anklage von 1961. Er klagt sich selbst an, wenn er sagt: Ich habe nur meine Arbeit getan.

Sie meinen, dass die Leute ihm heute eher glauben als früher?

1961 hat ihm niemand geglaubt. Das Gericht hat in seinem Urteil geschrieben, Eichmann habe immer gelogen. Wir sagen: Angenommen, er hat die Wahrheit gesagt. Lasst ihn uns danach beurteilen. Eichmann leugnet ja nichts. Er sagt nur: Ich habe niemanden getötet. Ich habe nur für die Transporte gesorgt. Für mich ist das genug, um ihn als Kriminellen zu verurteilen. Aber dem Staatsanwalt Gideon Hausner war das beim Prozess in Jerusalem 1961 nicht genug. Er wollte mehr. Wenn Eichmann sagte: Ich habe nur den Fahrplan gemacht, sagte Hausner: Nein, Sie haben mehr gemacht.

Wie haben Sie das Material selbst bearbeitet?

Es war in sehr schlechtem Zustand. Wir haben es restauriert, und wir nahmen Bilder aus dem Publikum und projizierten sie als Spiegelungen auf den Glaskasten, in dem Eichmann saß. Auch Gesichter der Zeugen, die Eichmann gegenüberstanden. Das ist reines Kino. Wir verstärkten die Geräusche wie in einer Fiktion. Man hört jede Bewegung, einen Stift, ein Papier, die Kleider, das Atmen, um es noch gegenwärtiger zu machen.

Sie haben über den Fall Eichmann gesprochen und über modernes Management. Haben Sie ihn als ein Symbol benutzt?

Nicht als Symbol, als Protagonist, als Schauspieler in einer modernen Gesellschaft. Das basiert auf dem Blick von Hannah Arendt. Für mich ist Eichmann ein gewöhnlicher Mann, ein sozialer Idealist. Er arbeitet für die Gesellschaft. Eichmann trennt die Welt in Problem und Lösung. Er definiert nicht das Problem! Aber wenn man ihm sagt: Es gibt ein Problem mit den Juden, dann arbeitet er an der Lösung. Er hat eine Menge Qualitäten. Er ist ein sehr guter Arbeiter, effizient und umgänglich. Gleichzeitig versteht er sehr gut, wer die Macht hat, wie die Hierarchie funktioniert. Wir sehen das auch an seinem Verhältnis zum Gerichtshof. Er ist kein Psychopath, sondern ein Normopath. Eichmann in einer anderen Situation, in einem nichtkriminellen Staat, ist das Ideal eines modernen Produktionsmanagers. Jemand, der fähig ist, zu diskutieren, zu verhandeln, zu organisieren. Eichmann hat nie jemanden mit seinen Händen getötet. Seine einzige Waffe war der Stift. Das ist die Moderne, in der jede Arbeit fragmentiert ist.

Es gibt eine Stelle, wo ich dachte, dass er entschieden nicht normal ist. Das war, als er von seiner Reise nach Lublin und Auschwitz erzählt. Er hat alles gesehen und doch nicht das geringste Bewusstsein davon.

In seiner Aussage bei der Polizei – vor dem Prozess – sagt er über seinen Besuch in Auschwitz: Ich musste mich kneifen, weil ich vergaß, dass ich da war, um einen Bericht zu schreiben. Er war vielleicht schockiert, aber dann fiel ihm Gott sei Dank noch ein, dass er nicht nach Auschwitz gefahren war, um schockiert zu sein! Eichmann ist nicht dumm, aber er ist der Mann, der nicht denkt. Er versetzt sich nie in die Position eines anderen, um das Ergebnis seiner Arbeit zu überdenken. Wenn ich sage, er war normal, dann meine ich damit, er war sozial integriert. Gleichzeitig hatte er viele Instrumente, die ihm halfen, sich von der Welt abzutrennen, vor allem die Sprache: Umsiedlung, Sonderbehandlung, Endlösung, Farbkreuzverfahren. Aber sehen Sie sich unsere Welt heute an: Firmen entlassen keine Arbeiter: Sie machen einen „Sozialplan“. Wenn die Nato mit ihren Bomben Zivilisten tötet, dann sind das keine toten Zivilisten, sondern „Kollateralschäden“. Es gibt eine Sprache, die einem hilft, sich vom Ergebnis seines Handelns zu lösen. Eichmann ist dafür beispielhaft. Er ist nicht einzigartig. Sich als ein Werkzeug in den Händen anderer zu sehen, ist nicht einzigartig. Und die Auffassung, dass man nur für das verantwortlich ist, was man selbst tut, und nicht für die Folgen, die sich daraus ergeben, die ist auch nicht einzigartig.

Interview: Anja Seeliger

„Ein Spezialist“. Regie: Eyal Sivan. F/D/Ö/B/Israel 1998. 128 Min.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen