: Weihnacht unterm Christbaum
■ Der Oldenburger Politologe Ahlrich Meyer untersuchte Propagandafotos der Wehrmacht aus Marseille, 1942-44 / Ausstellung in Bremen
Der Krieg und die Bildmedien: seit Golf- und Kosovokrieg heftig bis zur Langeweile rauf- und runterpalavertes Thema. Wie wird das Grauen rein optisch verharmlost, vereinseitigt, verabenteuert durch Weglassung, Fokusierung und Perspektivwahl, und zwar subkutan und unauffällig, also höchst hinterhältig, höchst effektiv? Eine Frage, nicht nur von aktueller Bedeutung, sondern auch von historischer, siehe die Diskussion um die (angeblich) fragwürdige Beweismacht der Fotos im Kontext der Wehrmachts-ausstellung.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die „Heimatfront“ psychologisch aufgerüstet nicht nur durch die Wochenschau-Heldenfilmchen, sondern auch durch Fotos, massenweise. Dreieinhalb Millionen soll die Nazi-Propagandakompanie (PK) „geschossen“ haben. Das Institut Français dokumentiert nun diese Parteilichkeit der Foto-„Dokumentation“ des Krieges durch die Nazis am Beispiel Marseille. Zu sehen ist eine Auswahl aus rund 1.000 Fotos aus der zweijährigen Besatzerzeit der Stadt am Meer, die im Bundesarchiv (Koblenz) und im Militärarchiv (Ivry) lange Zeit unbemerkt dahinschlummerten. Der Bremer Temmen-Verlag publizierte sie unter dem Titel „Der Blick des Besatzers“ und ergänzt sie durch einen Essay des Oldenburger Politologen Ahlrich Meyer.
Die Fotos halten Schlüsseldaten der Okkupation fest, aber eben nur einige, nicht alle. November 1942: Einmarsch der 335. Infanterie-Division; ab 22. Januar 1943: „Durchkämmung“ des Alten Hafens, um die Stadt „von fremdrassigen, vor allem politischen Elementen... zu säubern“. Geplant ist die „Abfuhr“ der „großen Verbrechermassen“ ins Konzentrationslager Compiegne und dann ins KZ Sobibor. „Ich stelle mir hier eine Zahl von rund 100.000 vor“, spekuliert SS-Reichsführer Heinrich Himmler großzügig, als ging's um Bauklötze. Je nach Quelle wurden bei der „reibungslos“ verlaufenden Aktion allerdings „nur“ 28.000 Person „ausgehoben“ bzw. 6.000 vorübergehend festgenommen, darunter „2.000 Schwerverdächtige“. 24. Januar 1943: Knapp 800 Juden und weitere 800 Personen werden vom Güterbahnhof aus deportiert. 1. Februar 1943: Beginn der Sprengung des Hafenviertels, um die „Widerstandsnester“ im „übelriechenden, geheimnisvollen“ Viertel zu eliminieren. (Die Zitate stammen aus unterschiedlichen Wehrmachts- und Zeitungsquellen, die im Buch aufgeführt sind.) In Anna Seghers Roman „Transit“ ist Marseille unter den Nazis eher ein Symbol für das unerträglich leise Warten auf Ausreise. Die Propagandabilder aber lärmen in blindem Aktionismus. Aber Deutschland bekämpfte einen Feind, wo keiner war. Im Marseiller Hafenviertel lebten nämlich vorwiegend arme Fischer und Nutten. Die großen Verbrecher trieben sich dort nur in den einschlägigen Kriminalromanen herum.
Was die Propagandafotos verschweigen, sind die Auslöser der aufwendigen Aktionen: einige „leichte Bombenwürfe von Kommunisten“ Ende 1942 und „folgenschwere Sprengstoffanschläge, bei denen zahlreiche deutsche Soldaten verletzt wurden“ im Januar 1943. Das Gemetzel wird ausgespart. Stattdessen bemühen sich die Bilder, ein einträchtiges Miteinander zwischen deutschen Soldaten und französischen Polizisten und Zivilisten zu simulieren. Schließlich sind die Deutschen ja nur gekommen, um Marseille vor einer mutmaßlichen Bombardierung der Engländer zu beschützen.
Meyer beklagt das Fehlen einer wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser „Täterbilder“. Doch die Topoi der Siegerinszenierung, die er extrahiert, sind sooo atemberaubend und neu nicht: Einritt durch den Arc de Triomphe aus Unterperspektive, Darstellung des Juden als Schelm, Soldaten als unerschütterliche Felsen in der Brandung und freundliche Beschützer, Krieg als Alltag mit dem Weihnachtsbaum. Was viel mehr erstaunt: Wie schnappschüssig viele der Bilder sind und wie dusslig manche der dargestellten Wehrmachtler wirken, ganz im Gegensatz zur These von den superraffinierten, völlig neuartigen Propagandatricks der Nazis, einer These, die übrigens manche Leute für einen Mythos halten. Trotzdem ein spannendes Buch.
bk
Buchpreis 48 Mark. Ausstellung im Institut Francais, Contrescarpe 19, Mo-Do 9-19 Uhr, Fr 9-14 Uhr, bis 28. Januar; Vernissage: 9. Januar, 11 Uhr.
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