Bruch mit dem Staat der Eltern

Die Bonner Republik findet mit der Spendenaffäre nachträglich ein unrühmliches Ende. Anlass, der weidlich zerredeten „Berliner Republik“ eine neue Chance einzuräumen ■ Von Claus Leggewie

Die durchgängige Weigerung der westdeutschen politischen Eliten, die Geburt einer „Berliner Republik“ nach 1990 mit Herz und Verstand anzuerkennen, bekommt einen schalen Nachgeschmack, da nun deutlicher denn je die kriminelle Seite der Bonner Republik ans Licht kommt. Die reservierte Aufnahme, die der Begriff bei Politikern, bei tonangebenden Managern und Verbandsfunktionären, bei den meisten Intellektuellen und Meinungsführern gefunden hat, verwundert ebensowenig wie sein rasanter Verschleiß in der Phrasendreschmaschine von „New Berlin“.

Nicht echte Sorge über eine politische „Verostung“ Deutschlands trieb die Skeptiker um. Es kam ihnen auch ganz recht, dass ein paar Rechtsaußenseiter den Begriff besetzen wollten, die tatsächlich eine Kehrtwende im Sinn hatten: die fundamentale Revision der Verwestlichung seit 1945. Beim Umzug von Bonn nach Berlin herrschte breites Einverständnis darüber, dass die (unbestreitbare) Erfolgsgeschichte mindestens 50 weitere Jahre fortdauern sollte. Endlich war die „Selbstanerkennung“ erfolgt, aber die Feier der neuen Bundesrepublik als ganz die alte war defensiv. Sie war geprägt von der Angst der Flakhelfer-Generation, das Gebäude, das von jungen Kohls errichtet und vom späten Kohl vollendet wurde, könne am Ende doch noch zusammenkrachen.

Hinzu kam das schlechte Gewissen der an der Spitze der Institutionen angelangten 68er über eigene Sünden in einer Jugend, die nicht ganz so demokratiefest und westgewandt war. Drei Mal täglich bekannten sich „Adenauer-Linke“ wie Joschka Fischer zum Westen und verschwendeten späte Liebe an Helmut Kohl, der um diese Zuneigung einen Dreck gegeben haben wird. Auch die konservative Presse, die sich ein paar europhorische Linke hält, pflegt ihr Ressentiment gegen die Generation Schröders und Fischers weiter, auch wenn sie Kohl jetzt in die Pfanne haut. Erstmal sollen die Wendehälse zur Strafe zehn Mal ihre schlimmsten Kohlhudeleien abschreiben.

Im Ernst: Dem „System Kohl“, das Micha Brumlik in der taz vom 22. 1. auf den hässlichen Kern gestutzt hat, gehörten viele an, die das jetzt ebenso rasch vergessen (machen) wollen wie die Profiteure des „Systems Honecker“. Gleich waren, überflüssig zu sagen, nicht die Systeme, wohl aber der Opportunismus, der aus Kohls weit gespanntem Netzwerk nachträglich eine One-Man-Show macht. Wir waren es nicht, Helmut Kohl war es. So sieht es offenbar auch ein Teil der Bevölkerung, die der Bescherung halb belustigt, halb angewidert am Fernseher beiwohnt, aber ihr Wahlverhalten kaum ändern dürfte. Die Schwarzen haben gemogelt, aber die Roten machen das Benzin teurer!

Alfred Grosser hat anlässlich der letzten Sitzung von Bundestag und Bundesrat im Juli 1999 das Wort von den „letzten fünfzig Jahren“ nicht mehr hören wollen. „Es sind 41 Jahre und 9 Jahre“, korrigierte der französische Publizist und Deutschlandexperte die herrschende Geschichtsklitterung und rief in Erinnerung: „Für 16 Millionen Deutsche waren die letzten 41 Jahre nicht die ihrer Republik.“

Die Chance, nicht allein ein Beitrittsgebiet anzuschließen, sondern der neuen Bundesrepublik eine neue Verfassung zur Abstimmung zu stellen, ist vertan. Damit hätten die 16 Millionen (plus sieben Millionen Einwanderer) wirklich Bundesbürger werden können.

Den Verfassungsbruch, den wir gerade mit Mühe zu verarbeiten suchen, hätte ein reformiertes Grundgesetz nicht verhindert, vielleicht aber die Entfremdung vor allem der Ostdeutschen, die seither eingetreten ist. Ausgerechnet die PDS, die Erbin des Honecker-Systems, die linke wie rechte Aversionen gegen die real existierende Berliner Republik kultiviert, dürfte Nutznießerin der letztlich alle Westparteien treffenden Krise sein.

Besserenfalls könnte diese Krise doch noch ein nachholendes Gründungserlebnis der Berliner Republik werden. Nicht Grundwerte und Koordinatensystem der Bonner Vorläuferin sind revisionsbedürftig, nötig ist aber ein scharfer Bruch mit der politischen Kultur der alten Bundesrepublik. Es geht dabei nicht um die Aufkündigung der Konsensgesellschaft, womit ein Teil der Unternehmer den Klassenkampf von oben kaschiert. Überholt ist der historische Dauerkompromiss vor allem in der Renten- und Gesundheitspolitik und die Beharrung der Sozial- und Tarifpartner im „Bündnis für Arbeit“ auf vermeintlich angestammten Rechten. Der Proporz, dessen Agonie man in Österreich gerade beobachten kann, darf nicht weiter durchgefüttert werden.

Darin besteht auch die Chance der ominösen „Generation Berlin“. Ihre medienöffentliche Wahrnehmung, selbst bei der angesprochenen Altersgruppe zwischen 30 und 40, scheint schon verschlissen, und allzu wagemutig waren die selbst ernannten Vorleute bisher nicht: Die „jungen Wilden“ in der Union übten sich in Feigheit vor dem „Staatsfeind Kohl“ (Brumlik), Roland Kochs Wahlsieg war geklaut.

Der rot-grüne Nachwuchs, der sich neuerdings etwas in der Zeitschrift Berliner Republik artikuliert, ist besser dran, lässt aber Feigheit vor dem Freund erkennen und möchte offenbar im Schlepptau von Schröder und Fischer Juniorchef werden. Schon ist hämisch von einem neuen Biedermeier die Rede, ältere Zeitgenossen vermissen die Substanz. Dabei ist ihr erklärter Pragmatismus nicht von der Hand zu weisen: Was bleibt anderes übrig, als den Porzellanladen aufzuräumen, den Flakhelfer und 68er hinterlassen?

Die jungen Abgeordneten thematisieren auch die richtigen Fragen: Was heute soziale Gerechtigkeit ist, definiert nicht mehr die Verbandsspitze der IG Metall (und erst recht nicht Herr Henkel). Es geht vornehmlich um Gerechtigkeit zwischen den Generationen und damit, zum Beispiel, um eine angemessene Würdigung der „Neuen Selbstständigen“ und eine neue Zusammensetzung des Bündnisses für Arbeit, in dem fruchtloser Alt-Korporatismus herrscht. Ein wenig mehr „Subversion“, auch mehr „Visionen“ möchte man diesen Adepten Helmut Schmidts gleichwohl abverlangen, die viel zu sehr auf „Medienwirkung“ im Fernsehen bedacht sind.

Die Musik spielt anderswo: in den neuen Medien (solange sie der Rekolonisierung durch das Fernsehen widerstehen), in der Literatur- und Theaterszene, in der nach oben offenen Subkultur. Dieses weite Feld, wo man die schrägen und die verzweifelten, die heiteren und coolen Töne hört, darf für eine neue politische Generation nicht – nach alter Politikermanier – „draußen im Lande“ sein.

Ebensowenig aber darf den jungen Neo-Existenzialisten aus dieser Szene, den Anti-Ironikern und Auch-Pragmatikern gleichgültig bleiben, was im „Raumschiff Bonn“ gespielt wird, das nunmehr in Berlin niedergegangen ist. Berlin hin oder her: Die gegenwärtige Krise schreit nach Veränderung, nach Engagement, nach Beteiligung. Gestern noch war die „Berliner Republik“ eine mediale Anmaßung, über die man sich lustig machen konnte. Heute zeigt sich, welche immense Verantwortung dem rot-grünen Personal zugefallen ist, und der „Generation Berlin“ verschlägt es fast den Atem: Sie muss das politisch-kulturelle Vakuum füllen, für „brutalstmögliche Aufklärung“ auch im eigenen Laden sorgen – und mit den Reparaturarbeiten fortfahren. Sie ist schon drin. Also doch noch: die Berliner Republik!

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Gießen. Zur Zeit arbeitet er als Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin.