piwik no script img

Sprachlose Kinder

Jugendliche aus Einwandererfamilien, die in Deutschland geboren wurden und hier aufwuchsen, zeigen oft große Sprachdefizite. Ein Problem für die Chancen des Einzelnen und für die Schulen

von SEMIRAN KAYA

Der, die oder das Sprache? Yașar und Fazilet nennen alle drei Artikel schnell hintereinander, bis die Lehrerin beim richtigen Artikel zustimmt. Beim Niederschreiben ist es schon schwieriger, weil sich die insgesamt elf Schüler nichts mehr zurufen können. Förderunterricht Deutsch an der Realschule Lassallstraße in Köln-Kalk. Die Artikel sind eigentlich Lernstoff der Grundschule. Hier nehmen Fünftklässler den längst fälligen Stoff durch. Von den elf Schülern sprechen neun Kinder Türkisch als Muttersprache und zwei Russisch. Mit dem Deutschen haben sie ihre Schwierigkeiten, obwohl fast alle hier geboren sind.

Ob es die fünfte oder die zehnte Klasse ist, ob es deutsche oder türkische Kinder sind, in allen Klassen sitzen Kinder mit Sprachproblemen. Gleichzeitig führen Schulen bilinguale Lernmodelle ein. Mit Fremdsprachen soll und wird schon in der Grundschule begonnen, und es wird über eine Verkürzung der Grundschulzeit diskutiert.

Wie aber sollen die Kinder schon in der Grundschule eine Fremdsprache lernen, wenn ihre eigene immer mehr verkommt und sogar die türkischen Migrantenkinder der dritten Generation schlechter Deutsch sprechen als ihre Eltern? Blickt man zurück auf die 70er- bis 80er-Jahre, fand man lediglich vereinzelte ausländische Familien, die in einem Wohnviertel lebten. Hierdurch hatten die Kinder der zweiten Generation automatisch Kontakt zu deutschen Gleichaltrigen und konnten so spontan Deutsch lernen. Heute dagegen finden sich bei den türkischen Migranten, die mit über 2 Millionen den größten ausländischen Bevölkerungsanteil stellt, subkulturelle Strukturen: Wohngebiete in denen nicht nur die Nachbarn türkisch sind, sondern auch das gesamte Umfeld. Wozu also noch Deutsch lernen, wenn in der Community alle Türkisch sprechen? Ob auf dem Schulhof, auf der Straße oder auf dem Spielplatz – fast 24 Stunden treffen sich Kinder mit der gleichen Nationalität. Bis auf ein paar Stunden in der Schule, die mancherorts bis zu 90 Prozent türkische Schüler aufweisen, haben sie mit deutschen Kindern wenig Kontakt.

Auch die 12-jährige Fazilet ist zwar in Deutschland geboren, spricht aber gebrochen Deutsch: „Meine Mutter kann nicht so gut Deutsch, mein Vater geht arbeiten, darum spreche ich mit meiner Mutter türkisch. Meine Freunde sind mehr türkisch.“ Verschärft wird dieser Zustand durch den Fortgang deutscher Familien aus dem Viertel, weil diese die Bildungschancen ihrer Kinder wiederum nicht gefährden wollen.

Ob in Berlin oder Köln: Gerne nennt man die türkischen Viertel Klein-Istanbul. Und doch sind sie es nicht, da hier im Gegensatz zum richtigen Istanbul keine gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen mehr stattfinden. Es sind vielmehr die in eine Großstadt verpflanzten ländlichen Welten und Ansichten, wo nicht alle in der Moderne ankommen. So holen viele Jugendliche, überwiegend Männer, der zweiten Generation häufig ihre EhegattInnen aus der Türkei. Diese Frauen können kein Deutsch. Mit den Kindern, die nach den heimatlichen Vorstellungen dieser Frauen erzogen werden, wird dann auch nur türkisch gesprochen.

Dieser Kreislauf spiegelt sich auch in den Kindergärten wider, wo wieder zwangsweise auf Türkisch kommuniziert wird. Sprachdefizite ergeben sich zudem durch Eltern, die ihre Kinder erst gar nicht zum Kindergarten anmelden, sondern bis zum Schulbeginn zu Hause betreuen. Die Mutter ist ohnehin zu Hause.

Als 1996 eine Berliner Studie die Sprachprobleme der dritten Generation von Migrantenkindern bestätigte, war der Aufschrei groß: Von den insgesamt 328 Schülern der Vorklassen stammten 83 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien, wovon 75 Prozent der Schüler aus der Türkei kamen. 63 Prozent konnten beim Eintritt in die Vorklasse entweder gar kein Deutsch oder besaßen nur geringe Deutschkenntnisse. Von insgesamt 273 Kindern konnten 172 ausländische Kinder den sprachlichen Anforderungen nicht gerecht werden. Dabei waren 80 Prozent türkischer und 20 Prozent anderer Nationalität.

Schon seit Jahren belegen zahlreiche andere Studien, dass die geringen Schulerfolge von Migrantenkindern (zweimal so viele ausländische wie deutsche Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss) auf deren Sprachverständnis zurückzuführen sind. Die Ergebnisse der Schulpsychologischen Beratungsstelle Berlin, die auch an anderen Schulen Berlins und Nordrhein-Westfalens bestätigt wurden, verdeutlichen die Problematik: Das Niveau der Klassen sinkt, und die Lehrer sind mit enormen Problemen beim Verständnis und Gebrauch der deutschen Sprache der Kinder konfrontiert.

„Türkisch ist oft die einzige Sprache, die diese Kinder hören und sprechen; und die Schule soll es dann richten“, erzählt der Essener Sonder- und Hauptschullehrer Semi E. Tunç. Auch ihr Türkisch weise grammatikalische Mängel auf. Für Tunç, der öfter die Eltern seiner türkischen Schüler zu Hause besucht, weil sie nicht zur Sprechstunde kommen, ist es ein Spagat der Kulturen: „Beim Versuch, den Eltern klar zu machen, dass sie sich mehr um ihre Kinder kümmern sollen, werde ich für die schlechten Leistungen ihrer Kinder verantwortlich gemacht und aufgefordert dafür zu sorgen, dass sie die Klasse bestehen.“ Dass die Eltern so nicht nur die Schulen, sondern auch ihre Kinder überfordern, ist nur wenigen bewusst.

Bei dem fehlenden Deutschkenntnissen spielen auch die muttersprachlichen Medien eine Rolle. Bei türkischen Kindern, so die Berliner Studie, tritt als Freizeittätigkeit der Fernsehkonsum an erster Stelle. Angemerkt sei hier, dass in den meisten türkischen Haushalten der Fernseher standby läuft – auch wenn Besuch da ist. Über Kabel und Satellit können mittlerweile ganze 15 TV-Programme in türkischer Sprache empfangen werden. So wird der Babysitter und die familiäre Kommunikation durch den Fernseher ersetzt.

Die stumme Kommunikation wird von manchen Kinder bis zu neun Stunden am Tag in Anspruch genommen. Auch Fazilet ist von diesem Medium ganz angetan: „Ich gucke gern Fernsehen, aber mehr türkisches Fernsehen, weil da sind türkische Filme. Die verstehe ich und mag ich sehr.“ Hat Fazilet keine Lust auf die ganzen TV-Sendungen, sorgen der große Video-Markt und die türkischen Geschäfte für die richtige Unterhaltung. Ungeachtet der Inhalte werden die preiswerten Videofilme, die sich die Eltern ausleihen, auch von den Kindern konsumiert.

Die Auswirkungen einer medialen Gettoisierung auf die Kinder beschreibt Prof. Ali Ucar, Schulpsychologische Beratungsstelle Berlin, so: „Der Medienalltag, insbesondere TV-Sendungen in türkischer Sprache, haben den Effekt, die Isolation der Kinder von ihrem Umfeld zu verstärken. Hinzu kommt, dass die Geschwisterkinder unter sich bleiben. Die Möglichkeit, Deutsch zu lernen, bleibt unter diesen Umständen sehr eingeschränkt.“

Eine reduzierte Sprache versperrt und behindert nicht nur den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten und zu öffentlicher Betätigung. Ein Pidgin-Deutsch, das lediglich in unmittelbarer alltäglicher Kommunikation tauglich ist, legt den Einzelnen auf den Status des „Ausländers“ fest.

Das lange Schweigen der Politik und der Landesschulämter liegt wie Mehltau über diesem Problem, obwohl Lehrer schon seit Jahren darauf hinweisen. „An unserer Schule herrscht ein striktes Redeverbot zu diesem Thema“, beschreibt Frank B., Biologielehrer eines Gymnasiums, die Situation.

Anders als zum Beispiel in Schweden und der Schweiz, das jedem Einwanderer auferlegt, innerhalb eines Jahres die Landessprache zu erlernen, reagiert man in Deutschland erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Und anders als in Ländern mit akzeptierter Zuwanderung wie Frankreich, England oder den Niederlanden, ist hier die Didaktik und Methodik für Deutsch als Fremdsprache lange vernachlässigt worden.

Dass sich die ausschließliche Orientierung auf die deutsche Sprache im Bildungssystem nachteilig für die Migrantenkinder auswirkt, ist zwar durchgesickert. Aber an die zweisprachige Alphabetisierung glaubt man auch nicht mehr. Der Landauer Sprachwissenschaftler Prof. Hans Reich gibt zu bedenken, „dass der Wortschatz, die Grammatik und die sprachliche Aufgabenbewältigung von der Familie abhängen.“ Denn erst wenn die allgemeine Sprachfähigkeit gestärkt wird, könne auch die Brücke zur Schriftsprachfähigkeit geschlagen werden. Spracherwerb ist eben vor allem ein soziales Problem.

Berlins Ausländerbeauftragte Barbara John fordert, dass die Kinder dort abgeholt werden müssten, wo sie stünden: „Das Grundprinzip des Sprachenerwerbs ist immer noch nicht richtig verstanden worden: Kinder können nur in der Schule und nicht außerhalb Deutsch lernen. Auch wenn die Kinder beim Schuleintritt schlecht Deutsch sprechen, die Muttersprache darf nicht diffamiert werden.“ Zudem sei die Lehrerausbildung im Bereich der Didaktik mangelhaft und veraltet.

Dass Bildung zur entscheidenden sozialen Frage des 21. Jahrhunderts geworden ist, bezweifelt kein Wissenschaftler mehr. Wie aber sieht der deutsche Bildungsalltag in Wirklichkeit aus? Allein 1997 stieg die Zahl der Schüler um 190.000, doch wurden lediglich 1.300 neue Lehrer eingestellt. Auf einen Lehrer kommen also 150 Schüler. Laut der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fehlen in Deutschland 45.000 Pädagogen und 40.000 Lehrer sind arbeitslos. Im internationalen Leistungsvergleich erreichen deutsche Schüler – weit hinter Japan, Korea, Singapur und Russland – gerade mal einen Mittelplatz. Bis zu 150.000 Jugendliche blieben jährlich ganz ohne Abschluss, und mindestens 30.000 Schüler verlassen jährlich die Schule ohne ausreichende Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Fakten haben die Schulen aus ihrer politischen Nische heraustreten lassen und zum Handeln gezwungen. Ein großer Handlungsbedarf wird auch für die Sprachdefizite der Migrantenkinder gefordert.

Der Kölner Soziologe und Hauptschullehrer Reinhard Hocker fordert hierfür eine interkulturelle Kompetenz aller Lehrer: „Wir sind jetzt an einem Punkt, wo Schule ihre interkulturellen Aufgaben wahrnehmen muss. Daher muss es die interkulturelle Kompetenz in der Lehrerausbildung geben. Ich meine hiermit das Wissen über und den Umgang mit Kindern und Schülern mit Migrationshintergrund, den viele Lehrer gar nicht haben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen