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Chinas Aufbruch in die Zukunft

Der Wille zur Reform scheint stärker zu sein als alte Widerstände und neue Widersprüche. Chinas Bürger stehen vor großen Herausforderungen

aus PekingGEORG BLUME und CHIKAKO YAMAMOTO

Hu Angang, den manche den „einflussreichsten Ökonom Chinas“ nennen, spricht schlicht von einer „neuen Aufholstrategie“. Während der 45-jährige Wissenschaftler in seiner Pekinger Junggesellenwohnung an seiner westlichen Kaffeemaschine hantiert, erklärt er seine berühmte U-Kurve (siehe Grafik). Sie soll beweisen, dass der chinesische Wirtschaftsaufschwung keine historische Besonderheit ist. Dann kommt Hu bei Kaffee und Keksen auf Chinas Vorbilder zu sprechen: „Die Vereinigten Staaten haben einst 43 Jahre benötigt, um England einzuholen“, erläutert er. Japan habe in 40 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die USA eingeholt. Dann hätten die Tigerstaaten 30 Jahre gebraucht, um Europa einzuholen. Und nun? „China ist ein typischer Spätkommer“, ergänzt der Starökonom. Nach seiner Theorie besitzt sein Land heute schon alle „Vorteile des Rückständigen“: Es kann die Technologie der fortschrittlichen Länder übernehmen, aus ihren Erfolgen und Fehlern lernen und besitze den sozialen Willen zu einem „New Deal“ jenseits der alten Planwirtschaft. Außerdem verfüge China über die drei wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Aufholjagd: genügend Sparguthaben, Offenheit für ausländisches Kapital und die Fähigkeit, neue Technologien schnell zu verbreiten. Kann die „neue Aufholstrategie“ also funktionieren? Wenn Hu Recht bekäme, wäre die Welt eine andere.

Kein Subkontinent ändertsich schneller als China

Tatsächlich gilt zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer, was schon in der 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts Aufsehen erregte: Kein Subkontinent ändert sich schneller als China. Dafür ausschlaggebend ist nicht mehr so sehr das Wirtschaftswachstum, auch wenn ohne es nichts läuft. Die Natur des Wandels aber hat eine neue Stufe erreicht. Früher standen die Führer von Produktionseinheiten und Straßenkomitees an seiner Spitze, jetzt sind es Rechtsanwälte oder Start-up-Gründer. Gestern gaben Ingenieure und Parteikader den Ton an, heute bestimmen ihn Computerexperten, Regisseure und Schriftsteller.

Die Entwicklung hat drei Zugpferde: Auf politischer Ebene sorgen die seit 20 Jahren verfolgten Rechts- und Gesetzesreformen für eine größere Berechenbarkeit des Staates für Bürger und Unternehmen. Auf wirtschaftlicher Ebene ist die junge Privatwirtschaft dabei, den alten Staatsbetrieben ihren Rang abzulaufen. Bald wird sie die Hälfte des Bruttosozialprodukts liefern. Auf technologischer Ebene bietet die Internetrevolution China eine unverhoffte Chance, eine uneffektive Agrar- und Industriegesellschaft relativ rasch ins Informationszeitalter zu befördern. Entsprechend hektisch ist die Stimmung im Land.

Vergessen sind die Rückschläge der Vergangenheit: Maos Kulturrevolution und das Massaker vom Tiananmenplatz verblassen im Schatten größerer, immer mächtiger werdender Veränderungen. Politische Erinnerungen verlieren für viele Chinesen ihren prägenden Charakter, weil sich ihr Leben schnell und von Grund auf wandelt. Von den 900 Millionen Landbewohnern hat jeder dritte schon einmal sein Feld verlassen. Ihnen ist ihr Dasein auf dem Land zu ärmlich. Viele ziehen deshalb in die Stadt. Chinas Landflucht gilt schon heute als größte Völkerwanderung aller Zeiten. Auch in den Städten bleibt nichts beim Alten. Acht Jahre nach Einführung der „sozialistischen Marktwirtschaft“ auf dem 14. Parteitag der KPCh 1992 ist von der alten Planwirtschaft nicht mehr viel übrig. Den Arbeitern, denen gestern noch eine Lebensstellung mit Rente garantiert war, bleibt nur noch ein kleines garantiertes Mindesteinkommen und die Suche nach einem neuen Job auf dem freien Markt. Die Danwei, jene „Einheit“ in Fabrik, Produktionsmannschaft oder Wohnviertel, in der bis vor wenigen Jahren jeder Chinese sein zweites Zuhause hatte, ist in ihrer Funktion als Lebensgemeinschaft aufgelöst. Zum ersten Mal in der Geschichte sind die meisten Chinesen auf sich allein gestellt. Weder Kaiser noch Parteiführer, weder Großfamilie noch Danwei nehmen ihnen die wichtigsten Entscheidungen im Leben ab.

Hier liegt der Grund, warum viele Chinesen die nun schon fünfzigjährige Herrschaft der KPCh missmutig akzeptieren. Sie spüren die Partei im Alltag nicht mehr und billigen, dass sie es ist, die das riesige Land zusammenhält. Das allein grenzt an ein politisches Wunder. Denn aus dem farblosen Kommunistenstaat ist ein buntes Reich der Reformen entstanden, in dem eine Kraft stärker ist als alle anderen: die Veränderung. Wer ihr vorauseilt, dem stehen alle Tore offen. Erfolgreiche Rechtsanwälte sind die neuen Stars der Normalbürger. Wer sich der Veränderung widersetzt, ist verloren. Politische Gefangene ernten wenig Mitleid.

Überall klaffen neue Widersprüche: Das arme Hinterland kommt mit dem Entwicklungstempo der reichen Küstenprovinzen nicht mit. Generationen verdienter Industriearbeiter schaffen nicht mehr den Sprung in die Marktwirtschaft. 130 Millionen Chinesen, die über sechzig Jahre alt sind, droht ein Alter am Rande des Existenzminimums. Doch gleichzeitig werden neue Bedürfnisse befriedigt. Ein Zeitalter der Romantik hat begonnen, in dem die Menschen, angestachelt vom kapitalistischen Kulturbetrieb, ihre Erfüllung in der Liebe suchen. Ein prosperierender Buchmarkt ist entstanden. Selbst die chinesische Wissenschaft, die seit ihren großen Entdeckungen von Papier und Schießpulver den Fortschritt versäumte, ist wieder da. Chinesische Forscher suchen mit Erfindungen, die Telekommunikation und Gen-Food für alle Menschen erschwinglich machen, nach der Lösung des Dritte-Welt-Problems.

Sozialistische Ziele und Reformen passen nicht mehr zusammen

„Wir sind von der Radikalität der Umwälzungen überwältigt. Unsere sozialistischen Ziele und die Ergebnisse der Reformen passen nicht mehr zusammen“, sagt der Kommunist Xu Ming, Leiter des Literaturhistorischen Instituts der Pekinger Sozialakademie. Xu gab die 15-teilige Buchserie „Chinas Probleme“, die bislang umfangreichste und kritischste Bestandsaufnahme der eigenen Gesellschaft, heraus. Seither zählt der geschulte Marxist zu den wichtigsten Vordenkern der Republik. Zu den aktuellen Entwicklungen in China fallen ihm nur wenige Parallelen ein. „Was unsere Rechtsprechung betrifft, holen wir gerade die Lektionen der Französischen Revolution nach“, meint Xu. Doch mit dem Informationsfluss aus dem Internet sieht er sein Land direkt ins Zeitalter der Globalisierung katapultiert: „Wenn heute ein afrikanischer Herrscher eine Schandtat begeht, protestieren sofort 500 Millionen Hacker auf der ganzen Welt. Die chinesische Regierung kann die Auswirkungen dieser Revolution noch gar nicht einschätzen.“

Genauso ratlos ist die westliche Politik. Erst nach vielen Jahren des Zögerns hat sich die EU jetzt mit Peking über den Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation geeinigt. In Washington will der Kongress nächste Woche dem Land dauernde Handelsprivilegien einräumen und damit auch den WTO-Beitritt absegnen.

Als „hochmenschliches Drama mit ungeschriebenem Ende“ beschrieb die Washington Post kürzlich das amerikanisch-chinesische Verhältnis. Ist China nun Freund oder Feind? Nimmt das Land dem Westen mit billigen Exporten Arbeitsplätze weg, oder schafft es mit der Öffnung seines Binnenmarktes neue? Behindert oder stimuliert es die Weltwirtschaft, wenn in ihr jeder fünfte Erdenbürger, der ein Chinese ist, ein besseres Auskommen finden will?

Über nichts besteht im Westen Einigkeit, am allerwenigsten über die Menschenrechtslage im Reich der Mitte. Der Streit um China trennt die Reihen von Demokraten und Republikanern in Washington genauso wie die Reihen von Sozial- und Christdemokraten in Berlin.

Ein Grund dafür ist, dass sich nur ganz wenige westliche Politker, wie etwa der ehemalige amerikanische Präsident George Bush, intensiv mit China beschäftigt haben. So geschieht es, dass Bundesaußenminister Joschka Fischer im März vor einer Kommission der Vereinten Nationen in Genf die dramatische Verschlechterung der Menschenrechtslage in China beklagt, während zur gleichen Zeit Vertreter der Vereinten Nationen in Peking das Gegenteil behaupten. Fischer denkt dabei an die offiziell legitimierte Verfolgung von Anhängern der xenophoben Falun-Gong-Sekte, die UN-Vertreter sprechen von der Zahl der Armen, die in der Volksrepublik in den letzten zwölf Monaten um 30 Millionen gesunken sei. Vielleicht passiert einfach zu viel in China, um dem Westen ein klares Bild zu verschaffen. Doch gerade die facettenreichen Entwicklungen in dem Land zeigen den allumgreifenden Wandel auf. Alle Teile der Gesellschaft befinden sich im Umbruch: Die Politik sucht nach modernen Gesetzen. Die Wirtschaft verlangt nach Internettechnologie. Die Wissenschaft strebt nach Weltniveau. Die Literatur entwickelt eine neue Sprache. „Wir haben gar keinen Begriff für das, was heute in China passiert“, stellt der KP-Ideologe Xu fest. „Reform und Öffnung sind als Definitionen zu allgemein. Die Standardformel vom ‚Sozialismus chinesischer Prägung‘ bezeichnet nur ein Allerlei. Die heutigen Reformen gehen weiter als alles, was bisher über sie gesagt wurde.“ Wenn aber das die Aufholstrategie ist, umso besser. Echte Veränderung kommt – im Gegensatz zur propagandareichen Mao-Zeit – ohne große Worte aus.

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