: In der Obhut der Peiniger
Mit dreizehn Jahren wurde Zemwa von Rebellen entführt, musste kochen, putzen, wurde vergewaltigt. Heute lebt sie im Exil – in einer Hütte zusammen mit ehemaligen Rebellen
aus Nairobi PETER BÖHM
Der Alptraum ist vorbei, aber Aufwachen hilft nicht. „Ich hätte schon gerne Hilfe, wie ich das Ganze vergessen kann“, sagt die 17-jährige Zemwa Ochola. „Vielleicht werde ich es irgendwann los, wenn ich zurück in meiner Heimat bin und ein normales Leben führe.“ Was sie nicht vergessen kann, was sie am Tag still vor sich hin brüten lässt, ist, dass sie als 13-Jährige von Rebellen der Lord's Resistance Army (LRA) aus dem nordugandischen Gulu entführt wurde. Zemwa musste für sie waschen, sauber machen, kochen. Unter Bewachung. Auf jeden Fluchtversuch stand der Tod, und viele der Kinder, denen es so erging wie Zemwa, haben mit ansehen oder gar helfen müssen, wenn eines von ihnen mit einer Machete erschlagen wurde.
Damit die Kinder nicht mit der Gegend vertraut werden konnten, zogen die Rebellen von Ort zu Ort. Ihre Lager errichteten sie im Busch, ohne feste Häuser oder Planen, damit die ugandische Armee sie nicht aus der Luft ausmachen konnte. Fast die ganze Zeit hat Zemwa im Freien übernachtet, ohne Decke, ohne irgendetwas.
Eine Lehmhütte, vor der Tür Kibera, Nairobis größter Slum. Zemwa sitzt da, um sie herum andere Jugendliche, denen es eben so erging wie ihr, und Nimrod Chandi, einer ihrer Ex-Kommandanten. Der hat sich von den Rebellen abgesetzt und kümmert sich nun um die Gruppe.
„Das Schlimmste“, sagt das Mädchen, „waren die Vergewaltigungen. Wenn wir am Tag geholt wurden, hieß das nicht, dass wir abends nicht von einem anderen geholt werden würden.“ Jeder der Ranghöheren hatte das Recht dazu. Zemwa fürchtet nun, dass sie HIV-positiv ist. Auf die Frage, ob bei den Rebellen viele an den Folgen von Aids starben, sagt Chandi: „Das wird sich noch herausstellen müssen. Wenn jemand krank und schwach war, mussten wir ihn umbringen, weil er sonst vielleicht, hätten wir ihn zurückgelassen, dem Feind Informationen gegeben hätte.
Freude über das Leben im Slum
Niedergeschlagen sitzt Zemwa da. Doch dann ist da noch die andere Zemwa. Die Ausgelassene, die kichert, wenn sie zusammen mit den anderen Kindern erklärt, wie sie mit einem Schubkarren Erde fahren, um sich umgerechnet dreißig Pfennig am Tag zu verdienen. Die begeistert vorführt, wie man den Lehm über die Holzgestelle schmiert, um den Hütten eine glatte Fassade zu geben. Die sich kaum mehr einkriegt, als ihr Freund Patrick erzählt, dass sie alle, wenn die Polizei kommt, schnell wegrennen müssen, weil sie die Erde von einem Grundstück der Stadtverwaltung holen.
Wenn die Kinder über die Zeit bei den Rebellen reden, die sie in ihre Lager im Sudan verschleppt haben, ist kein Raum mehr in der Hütte für ein Lachen. Die Zeit dort, beginnt die 17-jährige Olivia Aketch, sei wie eine frische Wunde, die man nicht anfassen darf. „Ich möchte weinen. Aber für wen?“ Sie erzählt von Selbstmordgedanken an jenen Tagen, an denen sie nichts zu tun und Hunger hat. Die anderen, die nach ihr sprechen sollen, werden merklich still, sinken immer mehr in sich zusammen und nesteln mit starrem Blick an ihren Kleidern.
Selbstmordgedanken
Als Zemwa an der Reihe ist, erzählt sie, dass es ihr einen Stich gegeben habe, heute, als sie auf dem Markt war und ein paar Kinder in Schuluniformen gesehen hat. „Ich war in einem Internat, in der fünften Klasse“, sagt sie und bricht in Tränen aus. Sie ist die Einzige in der Gruppe, die etwas Englisch spricht. Ihr Gesicht verbirgt sie unter ihrer Jacke und sagt: „Mein Leben ist zerstört.“ Weiter kommt sie nicht.
Die Jungen, von der LRA in separate Gruppen gesteckt, wurden gezwungen, Siedlungen zu überfallen, deren Bewohner umzubringen und ihr Vieh und Eigentum zu stehlen. Patrick Onzima, heute siebzehn, wurde als 10-Jähriger entführt und anfänglich von den Rebellen als Spion eingesetzt. Es sei schlimm gewesen, ständig unter Druck zu stehen, sagt er. Aber mit der Zeit habe er sich daran gewöhnt. „Ich habe immer sofort das gemacht, was die Rebellen von mir verlangten. Deshalb bin ich nie in Gefahr gekommen.“ Dann demonstriert er einen kräftigen Stoß in die Rippen. Ungerührt erzählt er dabei, wie man ein Bajonett benutzte, um Leute zu erstechen. Dann bricht er unvermittelt in Tränen aus. Nachdem er sich wieder beruhigt hat, sagt er, mit einem Mal sei ihm klar geworden, wie er die ganze Zeit sein Leben vergeudet habe. Sein Traum war es, Ingenieur zu werden, und er befürchtet, dass nun daraus nichts mehr werden wird.
Für die Kinder ist die Gruppe Ersatz für die Familie, die sie lange entbehren mussten. Patrick, der so etwas wie ihr Anführer ist, berichtet, dass sie untereinander nie über ihre Zeit bei der LRA sprechen. Etwas von den Details dessen, was der Einzelne durchgemacht hat, haben sie erst jetzt bei dem Gespräch erfahren. „Das ist ja offensichtlich, welche Geschichte jeder von uns hat. Deshalb vermeiden wir es.“ Aber es schweißt auch zusammen. „Wir sind alle Ugander in einem fremden Land“, sagt er und die anderen nicken, „und wir können in unsere Herzen sehen.“
Die Frau, die von den Ex-Rebellen die Aufgabe bekommen hat, sich um die Jugendlichen zu kümmern, sagt: „Das bisschen, das sie verdienen, liefern sie bei mir ab. Und ich gehe zum Markt und koche für alle gemeinsam.“ Grace Akello ist 40 und wurde zusammen mit ihrem Mann selbst vor 13 Jahren von der LRA entführt. Die Jugendlichen nennen sie Mama. Dabei sind ihre Schützlinge schon viel zu selbständig, um eine Aufpasserin zu benötigen. Ärger gibt es auch schon mal: Die Nachbarn haben sich darüber beschwert, dass die Jugendlichen vor dem Schlafengehen zu laut beten. Aber so ist das eben daheim, in Uganda. Alles dort ist noch sehr traditionell – die Frauen begrüßen die Männer mit einem Knicks oder knien sich gar hin – und alle sind sehr religiös. „Es sind sehr gute Kinder“, sagt Akello. „Ich bin sicher, wenn sie eine Chance bekommen, können sie wirklich etwas im Leben erreichen.“
Mehr als 30 Jugendliche leben zur Zeit mit Zemwa in Kibera. Die Hütten dort sind jedoch nur zwei von vielen in und um Nairobi, in denen ehemalige Rebellen und die von ihnen entführten Kinder untergekommen sind. Nach internen Kämpfen in der LRA im vergangenen Sommer setzten sich insgesamt 2.000 von ihnen nach Kenia ab. Auslöser des Konflikts war ein Amnestiegesetz der ugandischen Regierung, das all jenen, die „politisch motivierte“ Verbrechen begangen haben, Straffreiheit verspricht.
Schlafen am Boden, wenig zu essen
Wenn alle Mädchen da sind, schlafen 20 von ihnen in einem Raum am Boden. Zu essen haben sie oft wenig, und die Miete für die zwei Häuser wurde schon seit sieben Monaten nicht mehr bezahlt. Am Tag, nachdem der Reporter zu Besuch war, wurden sie hinausgeschmissen. Der Vermieter hatte den Weißen gesehen und ihnen einfach nicht mehr geglaubt, dass sie kein Geld hätten. Nun hat Chandi, der Ex-Kommandant und Sprecher der gesamten Gruppe, ihnen zwei andere Häuser in Kibera besorgt. Aber auch deren Vermieter setzt sie unter Druck.
Seit über einem halben Jahr in einem Slum, ohne regelmäßiges Einkommen, ohne Unterstützung – Zemwa und die anderen sind durch ihr Leben im Busch kleine Überlebenskünstler geworden. Wenn sie nicht Lehm fahren, um Hütten zu verputzen, schließen sie sich am Morgen den Grasschneidern an oder gehen zum Markt, um Gemüse von Lastwagen abzuladen. Einige der Mädchen werden manchmal als Haushaltshilfe ausgeliehen. Die Bezahlung ist gering, aber zumindest bekommen sie dann etwas zu essen.
Die Jugendlichen wollen zurück nach Uganda. Im Januar hat Patrick es auf eigene Faust in einem anderen Viertel Nairobis versucht. Seitdem fehlen ihm nach einem Streit mit einigen Straßenkindern zwei untere Schneidezähne. Er sagt: „Ich weiß, ich würde hier als Ugander nie akzeptiert.“ Und seit er gesehen hat, wie ein mutmaßlicher Dieb in Kibera mit Benzin übergossen und angezündet wurde, geht er abends nicht mehr aus dem Haus.
Zemwa läuft an manchen Tagen die fünf Kilometer von Kibera in den Uhuru-Park, in der Innenstadt, wo sich jeden Tag die ugandischen Exilanten treffen. Den LRA-Leuten haben sich inzwischen Männer, Frauen und ganze Familien angeschlossen, die in Ugandas zahlreichen Bürgerkriegen in oft obskuren Rebellenbewegungen gekämpft haben und die nun nach über zehn Jahren durch die Amnestie in ihr Heimatland zurückkehren wollen.
Die Exilanten wollen zurück
Nachdem die Exilanten im Uhuru-Park gebetet und die ugandische Nationalhymne gesungen haben, verkündet Chandi die Neuigkeiten: Er zeigt einen fünfjährigen Jungen vor. Seine Mutter ist vorgestern gestorben. „Bitte kümmert euch um ihn. Er hat niemanden mehr.“ Wer an ugandischen Volkstänzen teilnehmen will, soll sich bei der Kulturgruppe melden. Außerdem warnt er vor der Gattin des ugandischen Ex-Präsidenten Milton Obote, die in einer kleinen Stadt nördlich von Nairobi lebt. Die versuche, sagt Chandi, die Versöhnung mit dem Heimatland mit allen Mitteln zu hintertreiben. Aber das Entscheidende, weswegen die Leute täglich hierherpilgern: Es gibt immer noch kein Datum für ihre Rückkehr! Dabei hat die ugandische Botschaft bereits im Februar alle Jugendlichen aus Zemwas Gruppe interviewt.
Obwohl Zemwa nicht weiß, ob ihre Stiefmutter noch in Gulu ist – ihr Vater starb in einem der Bürgerkriege, als sie noch ein Kleinkind war –, will sie dorthin zurück. Unbedingt. Denn da ist noch etwas anderes: Auf die Frage, ob denn unter der Gruppe in Nairobi auch einige ihrer Peiniger seien, schweigt Zemwa. Der Reporter war ja mit Chandi und den anderen Ex-Rebellen gekommen. Wird er ihnen etwas sagen? Die ein Jahr jüngere Akello setzt schon zum Sprechen an. Sie sitzt Zemwa gegenüber, hat den Blick zu Boden gerichtet und kann deshalb das beschwörende Kopfschütteln Zemwas nicht bemerken. Was Zemwa damit sagen will, braucht wohl niemand zu fragen: Du machst alles kaputt, wenn du dich verplapperst. Und dann hört der Alptraum vielleicht nie auf!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen