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Eine Posse mit Pinseln

Ein Mann stiehlt etwas in einem Laden. Er wird dabei erwischt. Doch er begleicht den Schaden umgehend, der Geschäftsinhaber verzichtet auf eine Anzeige. Das lässt dem eifrigen Staatsanwalt keine Ruhe . . .

von UWE MAEFFERT

Karl Schmidt-Rottluff, deutscher Expressionist am Anfang des vorigen Jahrhunderts, gab seinen Namen einer kleinen, in Hamburg-Altona gelegenen Straße, in der heute der Türke Hüseyin V. mit Frau und zwei Kindern wohnt. Auch V. malt.

Pinsel und Farben kauft er in einem Fachgeschäft nahe dem Dammtorbahnhof, für dessen Bezirk, wenn Straftaten begangen werden, das Amtsgericht Hamburg-Mitte zuständig ist.

Voraussetzung einer Diebstahlsanzeige, eigentlich jeder Anzeige, ist eine Beobachtung. Im Fall von V. hat sie der Fachgeschäftsverkäufer James Kofi N. gemacht, allerdings mit der Einschränkung, nicht gesehen zu haben, dass Utensilien eingesteckt worden waren.

An der Kasse darauf angesprochen, so die Darstellung von N. gegenüber der Polizei, ob er noch weitere als die zum Bezahlen bereit gehaltenen Pinsel bei sich habe, habe V. den Diebstahlsversuch mit entschuldigenden Worten sogleich zugegeben.

Wie viel für das Diebesgut und wie viel für die unbemakelten Pinsel und Farben zu bezahlen war, interessierte zunächst niemand; nicht die Polizei, nicht den Geschäftsführer Peter L. und auch nicht den Verkäufer. Die Einzelpreise wurden nicht notiert, die Pinsel nicht einmal gezählt. Der Gesamtpreis betrug 320 Mark, das war alles, und weil der Hobbymaler nur 240 Mark in seiner Geldbörse hatte, half dessen herbeitelefonierter Bruder aus, damit noch am selben Tag nichts schuldig blieb.

Doch Geschäftsführer L. verstand nicht, warum er sich dafür rechtfertigen musste, dass er wenige Tage später die Anzeige zurückgenommen hatte. Und obwohl er widerspruchsfrei erklärt hatte, er sei an einer Strafverfolgung absolut nicht interessiert, weil der ehemalige Kunde alles bezahlt und sich an das erteilte Hausverbot gehalten habe, klagte die Staatsanwaltschaft dennoch an.

Die Staatsanwaltschaft klagte sogar für das ganze unsortierte Bündel an, also auch für Pinsel und Farben, die V. unstreitig von Anfang an hatte bezahlen wollen, entweder weil man keine Möglichkeit sah, den einen Teil vom anderen wertmäßig zu trennen, oder weil man die fehlende Differenzierung übersehen hatte.

So wie Voraussetzung für eine Anzeige die Beobachtung eines Zeugen ist, so ist Voraussetzung für eine Verurteilung üblicherweise, dass der Zeuge bei dem bleibt, was er der Polizei gesagt hat und vor Gericht nicht plötzlich seine frühere Aussage fallen lässt oder auch nur abschwächt. Mit James Kofi N. wurde der Justiz jedoch ein Zeuge beschert, der noch zulegte.

Er habe, so der Zeuge ein Jahr nach dem letzten Besuch von V. im Laden, mit eigenen Augen gesehen, wie der Kunde Pinsel eingesteckt habe. Und um seine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen oder um bildhafter zu beschreiben, machte N. mit Handbewegungen den bekundetenVorgang vor.

Amtsrichter Dr. Schwarz und Oberamtsanwalt H. dachten nicht daran, den Zeugen mit seiner früheren Aussage zu konfrontieren. Man hatte mehr bekommen als erwartet.

Man musste nicht mühsame Schlüsse aus interpretationsbedürftigen Verhaltensweisen ziehen, sondern hatte eine glasklare Aussage gehört, die an Eindeutigkeit nicht zu wünschen ließ. Die Verurteilung des Angeklagten, dessen Verteidigung ich übernommen hatte, schien ein Kinderspiel. Warum den Widerspruch zur Sprache bringen?

Bei Oberamtsanwalt H. stellte sich eine Zufriedenheit besonderer Art ein. Sie folgte der Reaktion des Zeugen auf meinen Vorhalt, dass er gegenüber der Polizei verneint hatte, den Pinselklau gesehen zu haben. N. erzählte nun, er habe sich bedroht gefühlt, Bekannte oder Verwandte von V. seien nach der Geschichte in den Laden gekommen, es habe auch Anrufe gegeben. Was gesagt wurde, wisse er nicht, aber er habe Angst gehabt und deshalb gegenüber der Polizei fälschlich behauptet, den Diebstahl nicht beobachtet zu haben.

Vielen Staatsanwälten genügt heute nicht eine einfache Verurteilung des Angeklagten. Man möchte während eines Prozesses hören, dass mehr und Schlimmeres passiert ist, als man angeklagt hat. Die höchste Genugtuung stellt sich ein, wenn man den Verteidiger in einem schlechten Licht stehen sieht, sei es, dass er als Kumpan des Angeklagten erscheint, sei es, dass sein Wirken den Mandanten tiefer in die Patsche zu ziehen scheint.

Oberamtsanwalt H. suchte nicht zu verbergen, dass er frohlockte. Sein Glück brachte er offen zum Ausdruck. „Verteidigungsfehler“, bemerkte er, „ich werde mir Gedanken machen, Anträge zu stellen.“ – „Das glaube ich nicht“, erwiderte ich, ohne dass ich dabei wirklich gedacht habe, ich müsse vorsorglich einer aufziehenden Bedrohung begegnen.

An diesem Punkt war es Mittag geworden, und da ein weiterer Prozess seinen Anfang nehmen sollte, vertagte das Gericht die Sache gegen V. auf das Ende der Woche, um die beiden Zeugen L. und N. noch einmal und vor allem dazu zu verhören, was N. wenig konkret eine Drohung genannt hatte und wozu L. noch kein Wort gesagt hatte.

Es geschah schon am nächsten Tag: Die Polizei holte V. am frühen Morgen aus seiner Wohnung. Ich wollte es nicht glauben, als mir meine Sekretärin von der Verhaftung in einem Telefongespräch berichtete, aber es war wahr.

Amtsrichter Dr. Schwarz hatte Haftbefehl wegen Verdunklungsgefahr erlassen. Am Nachmittag des Vortages hatten er und Oberstaatsanwalt R. sich darüber verständigt, den Angeklagten „möglichst noch heute“ in Haft zu nehmen. Auch Zeuge Peter L. war für die Hüter der inneren Sicherheit dafür Beweis. Er habe „einen eingeschüchterten Eindruck“ gemacht, heißt es im Haftbefehl, er habe „immer wieder zu erkennen gegeben, dass er an der Strafverfolgung gegen den Angeklagten kein Interesse hat“.

Das ist offenbar der Stand der Dinge: Wer an Strafverfolgung kein Interesse hat, ist eingeschüchtert.

Vier Tage verbringt der 45-Jährige in der überfüllten Untersuchungshaftanstalt. Vier Tage nach dem Erlass des Haftbefehls verhandelt der Amtsrichter aus keinem anderen Grund, als den gemutmaßten Haftgrund untermauern zu wollen, vernimmt dafür L. und N. und die Freundin von L., die Dr. Schwarz aus der Reihe der Zuhörer unversehens zu sich nach vorn ruft. Über eine Bedrohung hört das Gericht nichts Genaueres als am ersten Prozesstag, außer dass L. auf die Frage des Anklägers: „Haben Sie Angst?“ antwortete: „Ja, vor Ihrer Fragerei.“

Richter Dr. Schwarz hebt den Haftbefehl auf, ist kein Stück weiter gekommen, vertagt auf einen dritten Verhandlungstag, für den er vier Zeugen bestellt, die die Anklageschrift gar nicht genannt und deren Vernehmung niemand beantragt hat.

Ich hatte bis dahin einen einzigen Antrag gestellt. Als ich von der Verhaftung meines Mandanten erfahren hatte, bat ich um meine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Abgelehnt. Die Sache sei „sehr einfach“, V. brauche keinen Verteidiger. „Wieso einfach?“, widersprach ich, „Sie kommen ja selbst kaum zurecht.“ Natürlich führte dies zu keiner Änderung.

Vier Zeugen wurden vernommen, weil Amtsrichter Dr. Schwarz sich einerseits von der Bedrohungsgeschichte noch nicht gelöst hatte und andererseits der Umstand, dass alle Pinsel und Farben in einen Topf geworfen worden waren, nicht nur nicht mehr übersehen werden konnte, sondern ein beträchtliches juristisches Problem aufwarf; das Problem nämlich, dass Waren unter fünfzig Mark juristisch gesehen geringwertig sind und die Verfolgung ihrer diebischen Entwendung (man mag es beklagen) einen Strafantrag des Bestohlenen voraussetzt.

Eine Ausnahme lässt das Gesetz zu. Die staatlichen Verfolger, denen ein Strafantrag fehlt, dürfen wieder loslegen, wenn ein „besonderes öffentliches Interesse“ angenommen wird. Nur die Staatsanwaltschaft kann dies tun.

Oberamtsanwalt H. hätte am zweiten Prozesstag, als das Problem von Geringwertigkeit und fehlendem Strafantrag dem Bewusstsein immer näher rückte, besser durch seine modische Lesebrille (Farbe rot) in den Gesetzeskommentar blicken sollen, anstatt mit ihr bloß lässig herumzuspielen.

Er hätte sich dann nicht darauf beschränkt, zu erklären, die Erhebung der Anklage würde zur Annahme des besonderen öffentlichen Interesses reichen. So etwas Besonderes ist eine einfache Anklage nicht, Herr Oberamtsanwalt! H. irrte also und brachte dadurch Dr. Schwarz in Schwierigkeiten.

Durfte der Richter dem Ankläger sagen, dass er sich irrte? Müsste dies der Angeklagte nicht dahin verstehen, der Richter wollte die Staatsanwaltschaft drängen oder auch nur veranlassen, das besondere Interesse anzunehmen – womit der Richter seine Objektivität verloren habe? H. würde bei dem kleinsten Hinweis sofort die Annahme, die den fehlenden Strafantrag ersetzt, aussprechen, kein Zweifel, und würde geradezu wie angestiftet erscheinen.

Zwei Tage wartet Dr. Schwarz: Auf den vierten Prozesstag hat er noch einmal den Polizeibeamten Sch. geladen, der bereits unter den vier Zeugen vom dritten Tag gewesen war. „Manchmal muss man die Dinge zweimal erörtern“, sagt er erklärend und offenbart darüber hinaus, dass er den Sch. erteilten Ermittlungsauftrag zu sehr später Stunde gegeben hatte: „Gegen 23 Uhr.“ Der Beamte sei in der Nachtschicht gewesen. „Aber Sie doch nicht, Herr Dr. Schwarz.“ – „Ich bin immer im Dienst.“

Die zur Nachtzeit in Auftrag gegebene polizeiliche Ermittlung bestätigt meine These, dass die Kasse des Künstlerbedarfsgeschäftes eine Uhr hat und dass die Zeit, wann die Warenpreise eingetippt werden, auf den Kassenbon gedruckt wird. Die Beweiskraft des Ergebnisses wurde aber relativiert, weil die Uhr falsch geht, wie Sch. ebenfalls festgestellt hatte.

Eine meiner wenigen Verteidigungsaktivitäten ignorierten Richter und Amtsanwalt völlig. Mir war der Gedanke gekommen, man könnte daran zweifeln, ob V. wirklich malt; könnte ihn verdächtigen, mit den Pinseln schwarz zu handeln.

V. wählte deshalb aus seinen Werken ein in Öl gemaltes Bild (Flusslandschaft) aus und stellte es neben sich im Gerichtssaal auf. Das Bild ist wirklich schön. Deutlich ist die Signatur zu sehen: „Hüseyin V.“. Doch meinem Eindruck nach sah man gar nicht hin. Als Richter hätte ich doch gleich gefragt: „Wann gemalt?“ – Und: „Mit welchen Pinseln?“ Oder in umgekehrter Reihenfolge.

Die Stunde der Plädoyers kam. Noch immer verharrte Oberamtsanwalt H. im Rechtsirrtum, und Amtsrichter Dr. Schwarz musste sich entscheiden. Den Ankläger aufmerksam zu machen und erkennen zu geben, dass jedenfalls er, Dr. Schwarz, es besser wusste?

„Ich teile nicht ihre Auffassung, Herr Oberamtsanwalt!“ Jetzt war es heraus und setzte – wie beabsichtigt – H. in Gang, ausdrücklich das besondere Interesse anzunehmen und zum Gerichtsprotokoll zu geben.

Riskant, Herr Dr. Schwarz, dass Sie aus der Deckung des Irrtums heraustraten, denn Sie nahmen V. für vier Tage die Freiheit, als das Verfolgungshindernis noch nicht beseitigt war!

Er musste erkannt haben, in welche Gefahr er sich persönlich begeben hatte. Dr. Schwarz weiß, dass V. am 29. September 1998 nicht mehr als 320 Mark gezahlt hatte und folglich die Summe für die bemakelten Pinsel unbestimmt war und unter fünfzig Mark betragen haben kann.

Nach den 240 Mark, die V. bei sich hatte, greift der Richter wie nach einem rettenden Strohhalm. Die Differenz zum Gesamtpreis sei der Wert der gestohlenen Pinsel gewesen, also über fünfzig Mark, folgerte er, als wenn ihm eigen wäre, bei einem Einkauf im Supermarkt alle Artikel im Kopf zu summieren, bevor er sie auf das Band der Kasse legt.

Er verurteilt V. zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten.

UWE MAEFFERT, 57 Jahre, arbeitet seit 1974 als Anwalt in Hamburg; unter anderem vertrat er während der vergangenen Jahre die des Kindesmordes verdächtige Monika Weimar; über deren „Haftgeschichte“ ist von ihm im Heft 6/2000 der Zeitschrift „Strafverteidiger“ ein Aufsatz erschienen

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