: Freiheit macht arm
Mit dem Drehteam der Filmemacherin Ulrike Ottinger auf Reisen quer durch Osteuropa (III): Zehn Jahre nach dem politischen Umbruch geht es den Rumänen schlechter denn je. Doch nicht nur desolate Plattenbauten prägen das Bild, sondern auch sorgfältig restaurierte Bürgerhäuser
von RAINER HERRN
Als wir die Reiseroute für Ulrike Ottingers Filmprojekt planten, standen wir vor der Wahl, entweder den Weg von Ungarn durch das politisch unsichere Exjugoslawien nach Bulgarien zu nehmen oder über Rumänien zu fahren. Vor Rumänien wurde gewarnt. Überfälle auf Touristen seien keine Seltenheit. Wir entschieden uns für den Weg über Rumänien. Mit ausreichend Wasser, Proviant und Diesel im Tank, gesicherten Türen und ohne Zwischenhalt – so unsere Vorstellung – über Arad durch bis Calafat.
Mit Kaffeepäckchen, Pfeffer- und Zimttütchen als begehrte Tauschware im Rucksack war ich in den 80er-Jahren durch die Gebirgslandschaften von Caransebes bis Petrosani gewandert. Schon damals war Individualtourismus ein Wagnis, denn es herrschte Mangel: Weil Benzin rar war, fuhren in Ceaușescus Rumänien Mitte der 80er-Jahre die Autos mit riesigen Gasflaschen auf dem Dach, wie auf Tauchstation. Wir kauften statt einem Brot gleich zehn, weil unklar war, wann die nächste Lieferung eintrifft. Doch als sichtbares Zeichen einer zumindest existierenden Industrie und Agronomie waren rauchende Schlote, riesige Felder und große Viehherden allgegenwärtig.
Was ist zehn Jahre nach dem politischen Umbruch aus den horizontweiten Feldern und den Industrieanlagen geworden? Wie geht es den Frauen und Männern, die dort arbeiteten, heute? Einsicht in die soziale und ökonomische Situation bekamen wir diesmal nicht, die lassen sich aus dem Fenster eines Kleinbusses nur erahnen. Es bleibt der im Vorbeifahren aufgeschnappte Eindruck, das Zufällige und Passagere, das sich nachträglich zu einem Bild verdichtet. An der Grenze warten wir viereinhalb Stunden. Zeit spielt keine Rolle. Nur die im Ausland arbeitenden Rumänen in ihren schicken Wagen, mit Schweizer oder deutschen Kennzeichen, sind auf der Überholspur. Die plötzliche Touristenansammlung in der Schlange hingegen wird von fliegenden Händlern mit folkloristischem Nippes und Banden von Geldwechslern und Autoschiebern als Gelegenheit zum Geschäft genutzt.
Unsere Anspannung verfliegt, als der Kleinbus durch die weiten, flachen Landschaften mit ihren verschlafenen Reihendörfern der Ebene hinter der ungarischen Grenze fährt. Später, in den imposanten Tälern Transsylvaniens, machen wir in einem Bergdorf halt. Was sich uns auf den ersten Blick als romantisch-vergessenes Landleben präsentierte, die Gänsescharen, die Pferde- und Eselskarren, die einzeln oder in Kleingruppen am Straßenrand gehüteten Ziegen und Rinder, die Lasten tragenden Menschen, sind Zeichen für die Ablösung der landwirtschaftlichen Kollektive durch Kleinbauern und Landarbeiter.
Sie müssen sich durchschlagen. Die Felder sind wieder in Handtücher zerschnitten, werden durch Hand- und Tierarbeit bewirtschaftet oder liegen einfach brach (diese landwirtschaftlich eigentlich nutzbaren Brachen sind Spekulationsobjekte). An Arbeitskraft mangelt es nicht, dafür aber an bezahlter Arbeit. Deshalb wanderten viele Rumänen aus.
Der im Westen erworbene Wohlstand ist in den Dörfern in Form überdimensionierter Neubauten mit überbordender Ornamentik weithin sichtbar. Während landwirtschaftliche Nutztiere Einkommen bedeuten, scheinen Haustiere wie Katzen und Hunde eher lästige Fresser. Ob auf dem Land oder in der Stadt – uns begegnen zahllose streunende Hunde. Auch die gab es früher nicht. Vielen von denen sieht man an, dass sie bessere Zeiten kannten. Vom Yorkshire- bis zum Doggenmischling – ob ausgesetzt, entlaufen oder verwildert – schließen sie sich zu bunten Rudeln zusammen, in denen sie tagsüber in der Sonne dösen oder Fressbares suchen.
Doch nur in Rumänien – so fällt uns auf – kommen sie gezielt unter die Räder. Ihre aufgedunsenen Kadaver liegen im Abstand von wenigen Kilometern am Straßenrand. Warum gerade jene, die auf der Seite der Besitzenden stehen, diesen „Sport“ betreiben, bleibt unerklärlich.
In den Vororten der Städte Arad, Caransebes und Timisoara ein ähnliches Bild von desolaten Plattenbausiedlungen und mit Schlaglöchern übersäten Straßen. Einige Hochhausfassaden verraten Eigeninitiative: zum Beispiel mit Straßenbahntüren zum zusätzlichen Zimmer verkleidete Balkons. Von den rauchenden Schloten ist heute kaum noch etwas zu sehen. Der RGW (Rat für gegenseitigeWirtschaftshilfe), im sozialistischen Lager das Gegenstück zur EG und zuständig für die Koordination von Landwirtschafts- und Industrieproduktion, ist mit dem politischen Umbruch kollabiert und mit ihm die nationalen Ökonomien. Die Hilfe von außen zeigt sich verhalten.
Nicht nur wirtschaftlich geht es Rumänien schlecht. Wegen der unsicheren politischen Verhältnisse halten sich Westeuropas Großkonzerne bei der Ansiedlung von Billiglohnproduktionsstätten zurück. Zum Glück, könnte man sagen. Aber eine eigene Industrie scheint sich nicht zu entwickeln. So bleiben die meisten alten Anlagen ungenutzt, viele davon verrotten, sind Sperrmüllhalden, und nur sehr wenige, in guter Lage liegende, sind heute Gewerbegebiete oder Dependancen westeuropäischer Supermarktketten.
In den anderen Ländern Osteuropas ist der Westen mit greller Werbung omnipräsent, doch vor dem finanzschwachen Rumänien scheint das Großkapital zurückzuschrecken. Als unsere Vorbehalte der Neugier gewichen sind, entscheiden wir uns, in Timisoara zu übernachten. Was wir dann während unseres Aufenthalts von der Stadt sehen können, übertrifft unsere Erwartungen bei weitem.
Die Altstadt ist durch drei spektakuläre Plätze geprägt, die wie Perlen an der Schnur einer Straße liegen. Einer der Plätze, der erst um die Jahrhundertwende in feinstem Jugendstil und Art déco entstand, ist mit seiner großzügigen Grünanlage und den Geschäften und Restaurants die Flaniermeile der Sonntagsspaziergänger. Hier füttern zu Prinzen und Prinzessinnen herausgeputzte Kinder in den meist selbst geschneiderten Kleidern die Tauben. Hier leisten sich Jugendliche bei McDonald’s einen Hamburger.
Die beiden anderen, früher entstandenen Plätze bilden weite Quadrate, gesäumt von reichen und zum Teil sorgfältig restaurierten Bürgerhäusern von der Renaissance über Barock bis zum Historismus. Touristen allerdings scheinen kaum nach Timisoara zu finden.
Als wir am anderen Morgen zum Frühstück gehen, fegen sieben Frauen in himmelblauen Kitteln den kleinen Empfangsraum des Hotels. Die Ausreise über die Donau vom rumänischen Calafat in das bulgarische Vidin geht flott. An der bulgarischen Grenze erfolgt die obligatorische Fahrt durch die Desinfektionsschleuse. Es scheint, die Bulgaren glauben, Armut sei ansteckend.
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