Deutsche Extremistenfibel

Jahr für Jahr veröffentlicht das Innenministerium seinen Verfassungsschutzbericht. Ein Rapport aus der Welt der Geheimämter. Doch meist wird nur zusammengetragen, was die jeweils Regierenden aufzuschreiben verlangen. Gibt dieser Bericht wirklich Auskunft über die Bedrohung der Demokratie? Wird er dem Anspruch gerecht, ein Frühwarnsystem zu sein? Eine Literatur- und Politikkritik aus Anlass der Diskussion um ein Verbot der NPD

von HORST MEIER

Es gibt politische Literatur, für die weder Verlagsprogramme noch Anzeigen werben, die weder von Vertretern noch Buchhändlern feilgeboten wird.

Ungeachtet dessen taucht sie in der öffentlichen Diskussion auf, wo immer um die „innere Sicherheit“ der Deutschen gerungen wird. Ein Landesbrauch will es, dass man sich je nach Tagesbedarf dieser Literatur bedient, um passende Zitate in Anschlag zu bringen. Das rührt daher, dass jene sonderbare Gattung regierungsamtlichen Schrifttums nicht auf Erbauung oder Unterhaltung setzt, sondern es darauf anlegt, Radikale von Querulanten, Subversive von Verführten, Konspirative von Leisetretern, Extremisten von Verstörten zu scheiden – kurz gesagt: Freund und Feind beim Namen zu nennen.

Die alljährlichen Rapporte, deren Material das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz zusammenstellt, werden vom Innenminister herausgegeben. Was da zur Extremistenlage der Nation publiziert wird – penibel recherchiert, ja geradezu detailverliebt –, wirkt komisch und anrührend zugleich: Das Land der überbevölkerten Mitte ist mit Radikalen nicht gerade gesegnet. Sie sind eine Minderheit. Ob man ihnen deshalb ein ums andere Jahr eine solche Hommage darbringt?

Die Berichte sind so alt wie es die Krise ihrer Urheber ist. 1950 aus der Taufe gehoben, kam der Verfassungsschutz gut zwanzig Jahre ohne dieses Kompendium aus. Öffentlichkeitsarbeit? Dergleichen überließ man getrost anderen. Bis heute gilt die diskrete Geräuschlosigkeit als höchste Tugend der Geheimdienste. Auch der Verfassungsschutz arbeitet am liebsten im Stillen.

Doch Anfang der Siebzigerjahre, im Zuge der Debatte um den Radikalenerlass, erlebte er seine erste schwere Legitimationskrise. Weil der Verfassungsschutz mehr als eine Million Bewerber für den öffentlichen Dienst auf ihre Verfassungstreue überprüfte – was einigen Tausend den Stempel „Verfassungsfeind“ einbrachte und Hunderte den Job kostete –, wurde sein Firmenname zum Synonym für Gesinnungsdruck und politische Diskriminierung. Es half alles nichts: Man trat die Flucht in die Öffentlichkeit an.

Die publizistische Offensive war sozialliberal geprägt, präsentierte einen halbwegs transparenten Dienst und heißt seitdem „geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus“: die Geburtsstunde der deutschen Extremistenfibel.

So unansehnlich und ästhetisch anspruchslos diese selbstvertriebenen Broschüren auch wirken – sie haben es in sich! So enthüllt der Blick in die zwei- bis dreihundert Seiten starken Hefte, die neuerdings auch über das Internet abzurufen sind (www.verfassungsschutz.de), mehr von den Buchhaltern des Extremismus als von ihren Kunden. Da die Vermarktung des Extremismus wie in keiner anderen Branche den Unwägbarkeiten der jeweiligen Regierungspolitik unterliegt, lohnt es sich, nicht nur ins aktuelle Heft zu schauen.

Nehmen wir eine Stichprobe aus dem Jahr 1992: „Der jährliche Verfassungsschutzbericht ist ein wichtiger Beitrag zur Information der Bürger und ein wesentlicher Bestandteil praktizierter wehrhafter Demokratie. Unser freiheitlicher Rechtsstaat verfügt über ein Instrumentarium, um die Wiederholung einer Entwicklung zu verhindern, in der Grundprinzipien der Verfassung von ihren Gegnern angegriffen und ausgehöhlt werden konnten.“ Haben Sie schon einmal versucht, ein Grundprinzip der Verfassung anzugreifen oder auszuhöhlen?

Mit dem Machtwechsel zu Rot-Grün blieb der Verfassungsschutz als Institution zwar unangetastet, aber beim Geleitwort traten maßvolle Veränderungen ein. Innenminister Otto Schily spricht als Mann der Zivilgesellschaft: „Die breite Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes bekennt sich zu den Grundwerten und Institutionen des demokratischen Systems. Gleichwohl gefährden Extremisten von rechts und links die innere Sicherheit.“ Klingt hübsch ausgewogen, meint aber unter Kanzler Gerhard Schröder vor allem die Gefahr von rechts.

Man darf sich daher nicht wundern, wenn Innenminister Schily 1999 eine geradezu unausgewogene Entschlossenheit an den Tag legt: „Besondere Sorge bereitet mir der Rechtsextremismus. Täglich neue Meldungen über ausländerfeindliche und antisemitische Anschläge zeigen die Gewaltbereitschaft von dieser Seite. Dem müssen wir entschlossen entgegentreten.“ Wie wahr! Was aber, wenn es mit dem Entgegentreten nicht so gut klappt? Dann gilt es wenigstens, aller Welt Entschlossenheit zu demonstrieren.

Womit wir bei der Frage wären, was die Innenminister mit dem Jahresbericht im Schilde führen: „Der Öffentlichkeit müssen die notwendigen Informationen vermittelt werden, die es jedermann ermöglichen, sich selbst ein Urteil über die Gefahren zu bilden, die unserem Rechtsstaat durch verfassungsfeindliche Kräfte drohen.“

Manfred Kanther meinte es wirklich gut mit der Aufklärung jedermanns. Auch sein rotgrüner Amtskollege Schily glaubt, der publizistische Flankenschutz sei einfach unverzichtbar: „Der Verfassungsschutzbericht zeigt Umfang und Facetten der Gefährdung auf, indem er über diejenigen informiert, die unseren Rechtsstaat bedrohen. Der Bericht soll alle Bürgerinnen und Bürger dazu anregen, sich ein eigenes Bild zu machen von den Zielen und Formen des politischen Extremismus.“

Machen wir uns lieber ein eigenes Bild darüber, wie es um die deutsche Extremistenfibel bestellt ist. Traditionellerweise ist der Bericht nach dem selben viergliedrigen Schema aufgebaut: Linksextremismus, Rechtsextremismus, Ausländerüberwachung und Spionageabwehr. Die beiden letzten Bereiche sollen uns hier nicht weiter interessieren; sie gehören nicht zu den ursprünglichen Aufgaben des Verfassungsschutzes.

Beginnen wir also mit dem Linksextremismus – aber halt! Der Hauptfeind steht seit dem Bericht aus dem Jahre 1998 ja gar nicht mehr links, also an erster Stelle der Extremistenfibel, sondern nach Jahrzehnten – Rot-Grün sei Dank – nunmehr rechts. Wenn das keine ausgleichende Gerechtigkeit ist!

Da wäre also die erste Hauptabteilung der Berichte, die den „rechtsextremistischen Bestrebungen“ gewidmet ist. Zunächst die Stichprobe des Jahres 1992, aus einer Zeit, da diese Bestrebungen noch an zweiter Stelle rangierten: „Die Bundesrepublik Deutschland erlebte 1992 eine Gewalteskalation bisher nicht gekannten Ausmaßes. Beim Bundesamt für Verfassungsschutz wurden 2.584 Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation erfasst.“ Als Innenminister Kanther diesen Bericht im August 1993 vorlegte, war der traurige Rekord des Vorjahres längst bekannt. Eine Neuigkeit immerhin konnte die Öffentlichkeit erfahren: Der Verfassungsschutz hat es auch gemerkt.

Von wegen „Frühwarnsystem“ – zu keiner Zeit war der Verfassungsschutz mit seinen Schriften den Erkenntnissen von Publizistik und Wissenschaft voraus. Und doch hält man an diesem Anspruch fest. Denn wer im Vorfeld beobachtet, da, wo eigentlich nichts, noch nichts geschieht, muss wenigstens prognostische Fähigkeiten beweisen.

Aber wenn es dann zur Probe aufs Exempel kommt und man von Wahlerfolgen der Stammtischrepublikaner oder dem Aufschäumen fremdenfeindlicher Gewalt überrascht wird, dann heißt es, die Politik habe die nachrichtendienstlichen Warnungen einmal mehr überhört. Wen man wann wovor gewarnt hat, darf freilich nicht verraten werden: Dienstgeheimnis!

Über der Lektüre der Berichte, die den diskreten Charme der Ministerialbürokratie versprühen, steigt die Ahnung auf, warum alle Warnungen dieser Behörde, sollten sie denn einmal rechtzeitig erfolgen, in den Wind gesprochen sind.

Da ist zum Beispiel die Familie Müller. Jedes Jahr, um den 20. April herum, empfängt man illustre Gäste. 1989 war ein hoher Feiertag zu begehen, weiß der Bericht von 1990: „Durch die alljährliche Ausrichtung von überregionalen ‚Führergeburtstags-‘ beziehungsweise ‚Sonnwendfeiern‘ wurde das Anwesen der Eheleute Curt und Ursula Müller in Mainz zum zentralen Treffpunkt für Neonationalsozialisten aus verschiedenen Orten des Bundesgebietes und dem benachbarten Ausland. An der Nachfeier am 22. April zum 100. Geburtstag Hitlers beteiligten sich rund achtzig Neonationalsozialisten.“

Der Verfassungsschutz weiß zudem von militanten Skinheads zu berichten – Leuten also, deren Treiben in die Zuständigkeit der Polizei fällt. Er nimmt aber auch Gebilde unter die Lupe, die unbedarfte Laien glatt übersehen: „Die ‚Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei – Auslands- und Aufbauorganisation‘ verfügt im Bundesgebiet über zahlreiche, meist nur aus Einzelpersonen bestehende ‚Stützpunkte‘, die auch 1992 von ihrer ‚Auslandszentrale‘ (in den USA) umfangreiches neonazistisches Propagandamaterial bezogen.“

Vortrefflich: „Aus Einzelpersonen bestehende Stützpunkte“! In solchen Wendungen schwingt sich der Verfassungsschutz zu Hochform auf. Auch die Bedeutungslosigkeit kennt eben viele Graustufen. Sie zu würdigen, darin ist unser Verfassungsschutz Spitze. Denn wo immer zwei im Namen der Verfassungsfeindschaft versammelt sind, da ist er mitten unter ihnen.

So viel zum Kampf gegen den Rechtsextremismus aus zurückliegenden Jahrgängen. Nehmen wir nun die Stichprobe aus dem vorjährigen Bericht. Jüngstes Beispiel: die Diskussion um ein Verbot der NPD. Verfassungsschützer sitzen in einer Bund-Länder-Kommission, die prüfen soll, welche Aussichten ein Verbotsantrag hat. Sie mühen sich, Belastungsmaterial gegen die Nationaldemokraten aufzutreiben. Keine leichte Aufgabe. In ihren eigenen Veröffentlichungen werden sie jedenfalls kaum etwas Brauchbares finden.

Der neueste Bericht, vorgelegt im April dieses Jahres, widmet der NPD das übliche Kapitel in der Abteilung „Rechtsextremismus“. Wer über zehn Druckseiten Altbekanntes las, mag an alles Mögliche gedacht haben, nur an eines nicht: Dass wenige Monate später das Verbot dieser Partei erörtert wird.

Man sprach zwar von Berührungspunkten mit Neonazis. Doch nicht einmal die zur Dramatisierung neigenden Verfassungsschützer stuften die NPD in ihrer Tendenz als neonazistisch ein. Im Gegenteil: „Inhaltlich öffnet sich die (NPD) weiter für sozialistische Themen. Sie sieht in einem ‚nationalen Sozialismus die höchste Form der Volksgemeinschaft verwirklicht‘. Zu erheblichen Irritationen (unter ihren Anhängern) hat die nationalbolschewistische Ausrichtung geführt. Diese vor allem in Ostdeutschland propagierte ideologische (Tendenz) sieht die NPD als antiimperialistische Partei.“

Auch sonst geht es den sechstausend Nationaldemokraten nicht gut, wissen unsere Verfassungsschützer zu berichten: „Der seit 1996 festzustellende Aufwärtstrend der NPD kam 1999 zum Stillstand. Inzwischen scheint (die Partei) mit ihrer um der Mitgliedergewinnung willen tolerierten Strömungsvielfalt an die Grenze ihrer Integrationsfähigkeit gestoßen zu sein.“ Davon, dass die NPD die „Schaltzentrale“ der Gewalt von rechts geworden wäre, wie man mittlerweile nahelegt, war im April keine Rede. Nicht einmal der heutzutage gängige Hinweis, einzelne Parteimitglieder neigten immer häufiger zu Gewalttaten, war im Frühjahr eine Erwähnung wert.

Hat das selbst ernannte „Frühwarnsystem“ der „streitbaren Demokratie“ die heraufziehende Gefahr verschlafen? Gegen den ansonsten durchaus berechtigten Vorwurf muss man den Verfassungsschutz dieses Mal in Schutz nehmen: Er konnte wirklich nicht ahnen, dass angesichts fremdenfeindlicher Gewaltakte führende CSU-Leute die Idee aufbringen würden, die NPD verbieten zu lassen.

Die momentane Aufregung um die NPD zeigt einmal mehr, dass das so genannte „Frühwarnsystem“ regelmäßig erst dann Alarm schlägt, wenn aus Politik und Gesellschaft entsprechende Feinderklärungen vorgegeben werden. Verfassungsschützer liefern gern, was gerade verlangt wird. Seit den Tagen des Kalten Krieges, als sie selbstverständlich im Kampf gegen Linksradikale mitmachten, hat sich an dieser opportunistischen Dienstleistung nichts geändert. Heutzutage heißt es: „Kampf gegen den Rechtsextremismus.“

Eine Behörde, die jedes Jahr schwarz auf weiß dokumentiert, dass sie entbehrlich ist, provoziert Fragen nach ihrer Existenzberechtigung: Wozu die uferlose Vorfeldaufklärung an den Rändern des politischen Spektrums? Genügt es nicht, dass Polizei und Justiz politisch motivierte Gewalttaten verfolgen? Kurzum: Steht der ganze geheimdienstliche Aufwand überhaupt in einem angemessenen Verhältnis zu seinem Ertrag?

Unseren Verfassungsschützern geht es offenbar wie der Besatzung eines Unterseebootes: Sie späht angestrengt durchs Periskop, sieht immer nur kleine Ausschnitte – und will sich doch ein ganzes Bild von der fernen Welt da draußen machen. Daher kann die geheimdienstliche „Inlandsaufklärung“ regelmäßig nur das berichten, was jedermann weiß, der seiner eigenen Wahrnehmung und politischen Erfahrung traut.

Aufs Ganze gesehen ist die prosaische Mischung aus Sektenforschung, Staatsbürgerkunde und Statistik, die der Jahresbericht bietet, ohne sicherheitspolitischen Gebrauchswert. Die nachrichtendienstliche Erforschung der Wirklichkeit destilliert zwar hin und wieder Informationen und ist in letzter Zeit auch sozialwissenschaftlich besser aufbereitet, sie macht aber vor allem eines: realitätsblind.

Im Medium der Konspiration, der Spitzelberichte und Zeugen vom Hörensagen, abgeschottet durch Sperrvermerke, Verschlusssachen und Geheimstufen, verdampft die Wirklichkeit unmerklich. So erst entsteht die Aura des Irrealen, die diese Berichte umgibt.

HORST MEIER, 46, Jurist und Autor, unter anderem für die taz, lebt in Hamburg. Zum Thema verfasste er das Buch „Parteiverbote und demokratische Republik“, Nomos, Baden-Baden 1993, 467 Seiten, 65 Mark