Das Phantom RZ gewinnt Gestalt

Für die Fahnder war es wie Weihnachten, als Mousli zu reden begann. Dass er die Anschuldi-gungen erhoben haben könnte, um seine Haut zu retten, schließen sie aus.

von PLUTONIA PLARRE

Unter dem hellen Rollkragenpullover des 41-jährigen Berliner Karatelehrers Tarek Mousli zeichnet sich eine kugelsichere Weste ab, als er den Gerichtssaal im Frankfurter Opec-Prozess betritt. Der große, schlanke Mann ist einer der bestgeschützten Zeugen, seit er bei der Bundesanwaltschaft eine Lebensbeichte über seine Zeit bei den Revolutionären Zellen (RZ) abgelegt und angebliche Kampfgefährten von früher in Untersuchungshaft gebracht hat.

Lange waren die Revolutionären Zellen ein Schatten für die deutschen Terrorismusverfolger. Die Rote Armee Fraktion (RAF) hat sich längst aufgelöst, ihre Protagonisten sind zum größten Teil bekannt und in Haft. Nur die Feierabendguerilla der RZ, die in Berlin wie in Westdeutschland mit spektakulären Aktionen die „Verhältnisse“ angegriffen hat, blieb ein Phantom. Mit dem Karatelehrer Mousli sieht die Bundesanwaltschaft jetzt die Chance, diesen Teil der Geschichte der radikalen Linken aufzuarbeiten.

Mousli selbst gibt zu, Mitglied der RZ gewesen zu sein, gesteht Beteiligungen an Anschlägen der RZ – und er beschuldigt mindestens sieben weitere Personen, Berlin zwischen 1985 und 1995 mit Sprengstoffanschlägen und Attentaten in Atem gehalten zu haben. Jetzt lebt Mousli im Zeugenschutzprogramm – und in Angst vor seiner ehemaligen Szene, die ihn als Verräter sieht. Morgen steht der Karate-Lehrer in Berlin vor Gericht und will seine Beichte wiederholen.

Der Prozess wird die Geschichte umschreiben. Und er ist erst der Anfang. Im kommenden Frühjahr wird Mousli in Berlin in einem Großverfahren gegen eine Frau und drei Männer als Kronzeuge auftreten: gegen die Frankfurter Galeristin Sabine Eckle (54), den Hausmeister des Berliner Projektzentrums Mehringhof, Axel Haug (52), den Mitarbeiter der Forschungsstelle für Flucht und Migration, Harald Glöde (52), und den Leiter des Akademischen Auslandsamtes der Technischen Universität Berlin, Matthias Borgmann (52). Obwohl sie im Berufsleben standen, sitzen die Beschuldigten seit annähernd einem Jahr in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft hat jetzt Anklage erhoben.

Ein Zufall führte die Bundesanwaltschaft auf die Spur der Revolutionären Zellen. Bei einem Kellereinbruch fällt zwei jugendlichen Kleinkriminellen im Jahr 1995 Sprengstoff in die Hände. Die Schüler wollen den Stoff schnellstmöglich loswerden und zu Geld machen. Der auserwählte Käufer, ein Onkel, befindet das Diebesgut für zu heiß und wendet sich an die Polizei. Diese glaubt den Jugendlichen die Geschichte vom Fund auf einer Parkbank – und legt die Sache zu den Akten. Dort findet sie erst im Herbst 1998 das Bundeskriminalamt wieder.

Die Spur führt zu Tarek Mousli und seiner früheren Freundin, den Mietern des Kellers. Und die Freundin sagt das aus, was ihr Mousli so alles über seine revolutionäre Vergangenheit berichtet hat. Mousli wird verhaftet, wieder freigelassen, erneut verhaftet – und dann ist der Damm gebrochen. Seitdem kann der Angeklagte offenbar nicht mehr aufhören zu reden. Auch die Berliner Linke, die Autonomen, in deren Umfeld sich Tarek Mousli lange bewegt hat, wird Gegenstand der Aussagen.

Verhandelt werden ab morgen und im kommenden Frühjahr die Knieschuss-Attentate in Berlin auf den damaligen Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg und den früheren Vorsitzenden des Asylsenats des Bundesverwaltungsgerichts, Günter Korbmacher.

Obwohl die Anschläge aus den Jahren 1986 und 1987 als gefährliche Körperverletzung verjährt sind, sind sie Bestandteile der Anklage, um die Rolle der Angeklagten bei den RZ zu belegen. Weitere Vorwürfe umfassen einen Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) im Februar 1987 in Berlin und einen Sprengstoffanschlag auf die Siegessäule im Januar 1991.

Hauptbeweismittel ist der Kronzeuge Mousli, der nach eigenen Angaben von 1985 bis 1990 aktives Mitglied einer Berliner Zelle der RZ war und sich bis 1995 als so genannter Schläfer in Reserve hielt. Aufgrund seiner Aussagen geht die Bundesanwaltschaft davon aus, dass die Beschuldigten den Berliner Zellen angehörten und an den genannten Anschlägen mitgewirkt haben. Der Nachweis für eine Tatbeteiligung muss in einem Paragraph-129a-Verfahren nicht erbracht werden.

In der Zeit zwischen 1973 und 1995 sollen die RZ bundesweit 186 Anschläge verübt haben, die nicht aufgeklärt werden konnten. Deshalb muss es den Fahndern wie Weihnachten vorgekommen sein, als Mousli im vergangenen Jahr zu reden begann. Dass er die Anschuldigungen erhoben haben könnte, um die eigene Haut zu retten, schließt die Bundesanwaltschaft aus. Die vorhandenenWidersprüche seien kein Grund, an der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu zweifeln.

Die Ankläger gehen davon aus, dass die RZ sich in Regionen unterteilten. Um sich zu tarnen, gingen die Mitglieder ganz normalen Berufen nach. Die Untergetauchten würden zum Teil bis heute von den Legalen finanziell unterstützt. Bundesweit wurden Delegiertentreffen namens „Assemblea“ oder „Miez-Treffen“ abgehalten.

Im Juni 1987 sollen Angehörige der RZ aus einem Klöckner-Werk in Salzhemmendorf 135 Kilogramm Sprengstoff geklaut haben. Weil die Beschaffungsaktion zuvor auf einem „Miez-Treffen“ beschlossen worden sei, hätten alle Mitglieder davon gewusst. Die Berliner Zellen hätten 20 Kilogramm davon bekommen, der bis März 1995 im Mehringhof aufbewahrt worden sei. Das Depot sollen Haug und der nach Kanada ausgewanderte Lothar Ebke betreut haben, die in dem Szeneprojekt Hausmeister waren. Im März 1995 soll Mousli 48 Stangen des hochexplosiven Materials übernommen und in seinem Privatkeller in Prenzlauer Berg aufbewahrt haben. Als Mousli den Diebstahl durch die Schüler entdeckte, will er den Rest des Sprengstoffs in einem Wassergraben von Berlin versteckt haben.

Obwohl zwei Durchsuchungen des Mehringhofs im Dezember 1999 und imMai 2000 ergebnislos verliefen, ist die Bundesanwaltschaft überzeugt davon, dass ein von Mousli angegebener Fahrstuhlschacht als Sprengstofflager gedient hat. Mousli wird trotzdem für glaubwürdig gehalten. Denn im Sommer 1999 wurden 4,8 Kilo Sprengstoff in dem von ihm benannten Wassergraben gefunden.

Die Aussagen des Kronzeugen sind mit Vorsicht zu genießen. Eine frühere Freundin hat ausgesagt, Mousli habe behauptet, derjenige gewesen zu sein, der auf den Richter geschossen habe. Nach Angaben von Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der Matthias Borgmann vertritt, ist das bei weitem nicht der einzige Widerspruch. Kaleck ist überzeugt, dass Mousli als Erster vor Gericht gestellt wird, um für das Verfahren gegen die übrigen Beschuldigten „Fakten“ zu schaffen. „Mouslis Aussagen können ungeprüft in ein erstes Urteil einfließen, weil niemand da ist, der kritische Fragen stellt.“

Ein gutes Dreivierteljahr haben die Ermittler mit dem Kronzeugen zusammengesessen, um die Geschichte der Revolutionären Zellen aufzuarbeiten. Das schweißt zusammen. Bei der zweiten Durchsuchung des Mehringhofs, die Mousli per Videostandschaltung dirigiert hatte, waren Ermittler und Zeuge schon längst beim vertrauten Du. „Wie bei Entführern und Entführten entwickeln sich in so einer langen Zeit Bindungen und Freundschaften“, sagt ein Anwalt. „Dann muss man etwas produzieren. Und Mousli ist sowieso jemand, der gern gefällt.“