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Wer einen Feind hat, lebt

Wovon genau handelte der Fall Sebnitz – von einem toten Jungen, von den Journalisten, von Neonazis, Kleinstädten oder von Familien, die sich in der Fremde nicht zurechtfinden? Eine Nachbetrachtung

von KERSTIN DECKER

Es ist vorbei. Zumindest für uns. Für die Öffentlichkeit. „Wer glaubt ihr noch?“, fragte mit großen Buchstaben die Bild-Zeitung am letzten Mittwoch im November. Das auflagenstärkste Blatt der Republik sprach von Josephs Mutter Renate Kantelberg-Abdulla. Ja, die Bild-Zeitung kann hart sein. Sie beendete jäh einen Fall, den sie sieben Tage zuvor selbst in die Welt stellte. Und alle folgten ihr auch jetzt, beim Aufhören. „Die Berichterstattung über den Tod des sechsjährigen Joseph wird ab sofort im Ressort Vermischtes fortgesetzt“, erklärte die Nachrichtenagentur dpa.

Die Bild-Zeitung, das Leitmedium. Hart und sentimental. Sentimental und hart. Das eine ist nicht ohne das andere. Man kennt diese Mischung. Es ist die Seelenwelt des Kleinbürgers. Die Seelenwelt der kleinen Städte, denkt man.

Sebnitz ist nun wieder Sebnitz.

Sebnitz wird nie wieder Sebnitz sein. So wie Rostock nie wieder wirklich Rostock wurde. Und Mölln nie wieder Mölln. All diese Orte tragen ein Zeichen, das sich als merkwürdig haltbar erweist in unserer schnelllebigen, schnell vergessenden Zeit.

Wovon genau also handelte das Stück, das eine Woche währte? Von uns, von den Journalisten? Oder von Neonazis und Ausländerfeindlichkeit? Von der Wirklichkeit der kleinen Städte im Osten? Den westdeutschen Familien, die plötzlich tief im Osten wohnen?

Wahrscheinlich von allem gleichzeitig. Die Nachricht war zu ungeheuerlich, um sie zu glauben. Sie war zu ungeheuerlich, sie nicht zu glauben. Und sie kam eben aus dem Osten.

Also glauben. Fünfzig Neonazis ertränken einen kleinen Jungen. Und dreihundert Badegäste waren dabei. Das ist keine Frage der Urteilsfähigkeit mehr, das zielt in andere Räume. Mitten hinein ins kollektive Unbewusste.

Wir wissen es längst: Das Bewusstsein ist eine Insel. Das Taghelle, das Aufgeklärte schwimmt auf einem dunklen Ozean. Das Merkmal des Taghellen ist es, dass es davon normalerweise nichts weiß. Sonst wäre es nicht so hell. Auch das journalistische Tagesbewusstsein hat eine Unterwelt. Gerade haben wir sie gesehen, an einem recht ungewöhnlichen Platz: an der Oberfläche.

Die taghellen Bewusstseinswelten Ost und West mögen gar nicht so verschieden sein. Reflexiv, zivilisatorisch gestimmt. Aber schwimmen sie nicht doch auf verschiedenen Ozeanen? Den östlichen jedenfalls hält man weiter westlich für ein einziges Bermudadreieck. Das beweist nicht unbedingt nautische Kenntnisse. Es beweist vor allem Fremdheit.

Wir sind nicht sicher, ob die Fünfzig-Rechtsradikale-ermorden-einen-Jungen-Geschichte stimmt. Aber das ändert nichts. Es ist dem Osten zuzutrauen. – Das war der Tenor der ersten Kommentare. Der der letzten Kommentare lautete: Es stimmt also nicht. Was ändert das? Es ist ihnen immer noch zuzutrauen.

Die Parallele zum 9. November 1938 schien angemessen und die Frage „Ist es wieder soweit?“ nicht zu groß. Nicht die schlechteste Definition von Fremdheit wäre: nicht wissen, was vom anderen zu erwarten ist, im Schlimmen wie im Guten. Die Sebnitzer könnten die Art der öffentlichen Behandlung ihres Falles als fremdenfeindlichen Akt deuten – ganz Unrecht hätten sie nicht.

Höchste Zeit also zu fragen: Was ist dem Osten zuzutrauen? Und – ja, das auch – was den Medien? Man kann kein Unterbewusstsein kritisieren – sonst wäre es keines. Aber wenn es beginnt, als Wachbewusstsein aufzutreten, wird die Sache bedenklich. Denn wie urteilt das demokratische, rechtsstaatliche Tagesbewusstsein, sagen wir, über einen Mann, der im Verdacht steht, seine Frau umgebracht zu haben? Er ist ein Mörder genau dann, sagt es, wenn ihm der Mord nachgewiesen wurde. Im Zweifel für den Angeklagten. – Das ist die Grundlage der Rechtsförmigkeit dieser Gesellschaft, auf die sie stolz ist.

Sebnitz, übersetzt in den Gattinnenmörderfall, lautete: Er hat sie zwar nicht ermordet, aber das verändert gar nichts. Denn er konnte sie nicht ausstehen. Er hätte es tun können. Er ist ein Mörder im höheren Sinne.

Kommunikationstheoretisch betrachtet, ist Gattenmord ein Fall von akut unterbrochener Kommunikation mit absichtlich ausgeschlossener Chance der Wiederaufnahme. Die Ehe ist eine menschliche Nähebeziehung. Kleinstädte sind auch Nähebeziehungen. Sie sind eine Art Großfamilie mit eingelassenen Selbstständigkeitszellen.

Großfamilien sind nie opferlos. Und sie sind fast immer repressiv. Sie verlangen Unterordnung, oder sagen wir: Einordnung. Der designierte Bundesbeauftragte für Kultur Julian Nida-Rümelin schrieb das Buch „Demokratie als Kooperation“. Wir lesen: „Wir verstehen unter dem Begriff und der Theorie der Zivilgesellschaft eine Konzeption, die den Hobbesschen Naturzustand als Zustand potentieller, permanenter Gewalt durch ein stabiles und von einem normativen Konsensus getragenenes Kooperationsgefüge überwindet.“

Hobbesscher Naturzustand oder Zivilgesellschaft? Mag sein, die strenge Alternative ist falsch. Keine Ehe, keine Freundschaft, keine atmosphärische Beziehung ist „zivilgesellschaftlich“ fassbar. Es gibt etwas dazwischen. Die Kleinstadt? Die Wirklichkeit? Die Geschichte der Kantelberg-Abdullas im Osten scheint vor allem die Geschichte einer permanent misslingenden Kommunikation zu sein. Der Vater fuhr die Tochter jeden Tag zur Schule, obwohl es nur fünf Minuten Fußweg sind. Sie hat keine Freunde. Die Familie lebt in ihrem Haus wie in einer Festung.

Im Dezember 1995 zogen die Abdullas nach Sebnitz. Sie übernahmen eine Apotheke. Es war die dritte Apotheke in Sebnitz. Die beiden anderen Apotheken hatten es besser. Es ist schwer, neu zu sein in einer Kleinstadt. Es ist immer schwer, neu in eine Familie zu kommen. Vor allem als Konkurrenz. Man müsste jetzt dringend hinein ins kollektive Kleinstadtunbewusste. Annahme oder Ablehnung, über diese elementare moralische Relation wird hier entschieden. Man müsste so unwestlich sein wie möglich. Eine Zumutung?

Gemessen am Maß des zivilisatorischen Fortschritts, sind Kleinstädte eine Zumutung. Sie sind mehr Gemeinschaft als Gesellschaft. Ja, mag sein, der Osten überhaupt ist noch immer mehr Gemeinschaft als Gesellschaft. In Gemeinschaften kann man nicht bei jeder Gelegenheit sagen: Ich hole meinen Anwalt! Wer in einer Ehe sagt: Ich hole meinen Anwalt!, gibt zu erkennen, dass er die Ehe (das Urbild von Gemeinschaft) für beendet hält.

Renate Kantelberg-Abdulla holte sofort ihren Anwalt und überzog die anderen Apotheken, Ärzte und die Stadt mit Rechtsstreitigkeiten. Sie nannte das: die ortsansässige „Korruption aufdecken“. Kein guter Weg ins kollektive Unbewusste einer Kleinstadt.

In dem Sommer 1997, als ihr Sohn Joseph starb, wurde ihnen die Apotheke fristlos gekündigt. Die Kantelberg-Abdullas blieben. Die Mutter erklärt den Tod ihres Sohnes – zur Beziehungstat. Vielleicht war es wie eine Sinngebung des Unannehmbaren. Vielleicht war es die tiefere Wahrheit über ihren Aufenthalt in Sebnitz: Sie wollen uns nicht haben. Bis zum Tod nicht.

Das ist eine seelische Wahrheit. Den Schritt zu tun, aus ihr auch eine juristische zu machen, würde kaum einer gehen. Noch immer weiß niemand, was geschehen ist. Nur dass es so nicht geschah, wie Renate Kantelberg-Abdulla suggerierte, das wissen jetzt alle. Von den drei Tatverdächtigen blieb kein einziger. Von den fünfzig Skinheads auch nicht. Hundert insgesamt soll es geben in der Sächsischen Schweiz.

Etwas sträubt sich dagegen, über eine Frau zu urteilen, die ihr Kind verlor. Es gibt ein Wort dafür: Takt. Rechtsformen – das Alpha und Omega des Rechtsstaates, der „Zivilgesellschaft“ – haben keinen Takt. Menschen, die sich als Botschafter der Zivilisation empfinden, haben keinen Takt. Missionare sind grundsätzlich taktlos.

Es ist eine Illusion, in eine kleine Stadt zu gehen und zu glauben, man ist ein autonomes Individuum. Nein. Man ist angewiesen dort auf andere. Wer beschließt, nach Bayern aufs Dorf zu ziehen, sollte den festen Vorsatz in sich tragen, dem örtlichen Schützenverein beizutreten, selbst wenn er nichts so lächerlich findet wie Schützenvereine.

Nur die großen Städte geben den Einzelnen wirklich frei – und lassen ihn zugleich allein. Kleine Welten sind beschränkte Welten. Man erkennt es an ihren Grenzen. Alle etwas festeren Welten sind beschränkt. Und ungerecht. Sie sehen aus wie Heimat, so wie Sebnitz vielleicht, als die Kantelberg-Abdullas, aus dem Irak kommend, es zum ersten Mal betraten. Eine altertümliche kleine Stadt. Die Menschen waren freundlich. Nun waren sie es nicht mehr.

Die Mauer der Kälte, die Mitleidlosigkeit in Sebnitz hat die Medien erstaunt. Sie hielten, was sie sahen, für ostdeutsches Bermudadreieckbarbarentum. Aber wer wüsste nicht, wie kalt gegeneinander Menschen sein können, die sich einmal zu nah waren?

Im Innersten ist die tragische Geschichte der Kantelberg-Abdullas wohl eine der wehrhaften Westfrau in der ostdeutschen Provinz. Wir ahnen etwas von ihren Erfahrungen. Denn wir haben Luise Endlichs „Neuland“ gelesen. Luise Endlich, die Wuppertalerin in Brandenburg. Sie zog aufs Dorf und erschrak, als sie auf echte Dorfbewohner traf. Sie lernte, dass es Menschen gibt, die nicht wissen, was Oregano ist.

Alle Ostler, die in Luise Endlichs Buch vorkommen, haben einen Sprachfehler. Es ist der Bericht aus einer anderen Zivilisation. Er hätte lustig sein können. Er ist es nicht. Weil Luise Endlich nichts von der Distanz, die sie allen gegenüber hat, zu sich selbst hat. Weil dieses Buch Seite um Seite nur Ich! sagt. Und wie mit Menschen leben, die sich selbst so unmenschlich ernst nehmen?

Einen Schritt von sich selbst zurücktreten und auf die anderen zu. Es scheint, auch Josephs Mutter konnte das nicht. Kleinstädte können nicht lachen. Frauen wie Luise Endlich oder Renate Kantelberg-Abdulla auch nicht. Darin sind sie vielen Ostlern vielleicht sehr nah. Wer sich an die Wand gedrängt fühlt, reagiert selten souverän.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fragte nach dem Bekanntwerden des Mordverdachts von Sebnitz: „Wer pflanzt solchen Hass in junge Menschen?“ Und sie antwortete sich selbst: „Das Milieu existiert, in dem auch das Schlimmste denkbar ist. Diese Hasskultur ist nicht ein unmittelbares Erbe der DDR, vielmehr hat sie das moralische Klima der Nachwendezeit hervorgebracht: das Selbstmitleid, das Opfergehabe, die Ressentiments und der Neid, die in den neuen Bundesländern seit Jahren gepflegt werden.“ Die psychologische Grobheit irritiert. Sie berührt den wunden Punkt, um ihn sofort wieder zuzudecken.

Denn was ist der gemeinsame Nenner all dieser beklagenswerten und durchaus existenten Eigenschaften? Die Verunsicherung des eigenen Ich. Nicht wissen, wer man ist. Keine eigene Sprache haben. Die Ostler sind „Übernommene“, sicher. Ist das schon eine Identität? Bei sich sein, spüren, dass man lebt. Menschen tun sehr viel für dieses Gefühl.

Wir sahen im Fernsehen „Zeugen“ des „Mordfalls Joseph“, die nicht erklären konnten, warum sie etwas bezeugten, das sie gar nicht gesehen haben. Wir ahnten es mitten in ihrer Sprachlosigkeit. Wahrscheinlich war es nicht mal das Geld, das Frau Kantelberg-Abdulla ihnen bot, es war etwas anderes – das Gefühl, wichtig zu sein. Zu zählen.

Wem sich die Welt verschließt – und sei es eine Kleinstadt –, braucht einen Feind. Wer einen Feind hat, lebt. Alles, was den Kantelberg-Abdullas geschah, haben sie auf Neonazis zurückgeführt. Auch das ist eine Möglichkeit, sich nicht selbst begegnen zu müssen. Mancher Ostler nutzt sie seit langem.

Und was machten inzwischen die Neonazis? Sie saßen in der Kneipe am Sebnitzer Markt, sprachen die Dialekte sämtlicher deutscher Provinzen und waren sehr zufrieden mit sich. Die Medien brauchen Auftritte? Kein Problem. Wirklichkeit ist nur eine Frage der Inszenierung, dieses Mediengesetz haben die Neonazis längst verstanden. Was für eine Allianz von Journalisten und Radikalen bei der Herstellung möglichst authentisch wirkender Bermudadreiecke.

Bleibt Christian Pfeiffer, der designierte niedersächsische Justizminister. Vor einem Jahr erklärte er den ostdeutschen Rechtsextremismus aus dem Geist der frühkindlichen DDR-Erziehung. Jetzt riet sein Kriminologisches Institut zur Wiederaufnahme des Falls um den toten Joseph.

Pfeiffer ist der Mann des taghellen, zivilgesellschaftlichen Bewusstseins. Keine Zwischenglieder. Der Mann ohne Ozean.

KERSTIN DECKER, 38, taz- und Tagesspiegel -Autorin, Philosophin, veröffentlichte mit ihrem Mann Gunnar das Buch „Gefühlsausbrüche oder Ewig pubertiert der Ostdeutsche. Reportagen, Polemiken, Portraits“, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000, 319 Seiten, 29,90 Mark

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