: Der laute Streit um einen Stillen
Von den Nazis verfolgt, von den Sowjets ermordet: Erich Nehlhans, Gründervater der Jüdischen Gemeinde Berlins nach dem Krieg, war Jahrzehnte vergessen. Jetzt wird er öffentlich geehrt – doch die Ehrung wird durch wohl haltlose Gerüchte gestört
von PHILIPP GESSLER
Das ist kein guter Ort für ein stilles Gedenken. Am Gründerzeithaus Nr. 35 der Prenzlauer Allee in Pankow wird eine Gedenktafel enthüllt. Da stört der Feierabendverkehr Berlins, der hier laut und stetig stadtauswärts rauscht. Die sanften Klänge des Klarinettisten, denen etwa 40 Personen zu lauschen versuchen, sind kaum zu hören. Manche der Zuhörer stehen auf dem Fahrradweg – Radfahrer, die sich an ihnen vorbeischlängeln müssen, beschweren sich lauthals. Auch einige Bewohner des Hauses Nr. 35 schimpfen: „Was ’n hier los?“, fragen gleich mehrere. Und da stört noch dieser Streit, der auch bei der Feier nicht verstummen will.
Es ist der laute Streit um einen Stillen: um Erich Nehlhans, der hier geehrt werden soll. Er war der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde nach dem Krieg in Berlin. Damit ist er so etwas wie der Gründervater der heute wieder aufblühenden jüdischen Gemeinschaft in der Hauptstadt, in der mit etwa 12.000 Mitgliedern so viele Jüdinnen und Juden wohnen wie nirgendwo sonst in der Bundesrepublik. Und dennoch war Nehlhans Jahrzehnte lang vergessen. Die Stadt tut sich schwer mit diesem Mann, sagt Bezirksbürgermeister Alex Lubawinski (SPD). Denn der schüchterne Herr Nehlhans passt mit seinem Schicksal der vielen Rätsel und Widersprüche nicht in die Raster der Politik in Deutschland: Er wurde verfolgt von den Nazis – doch war er zugleich ihr Kollaborateur? Er wurde ermordet von den Sowjets – weil er ein amerikanischer Spion war?
Wie ein Phantom weht Nehlhans seit Jahrzehnten durch die Stadt, was auch daran liegt, dass schon seine ersten Lebenszeichen Rätsel aufgeben und er offenbar gern falsche Fährten legte. Zwar ist klar, dass Erich Nehlhans am 12. Februar 1899 mit seinem Zwillingsbruder Arthur als Sohn von Betty und Max Nehlhans geboren wurde. Aber hieß er wirklich Nehlhans, wie die Geburtsurkunde festhielt – oder nicht vielmehr Nelhans, wie er meistens unterschrieb? Das wäre vielleicht belanglos, wenn gerade um diese Frage nicht später ein heftiger Streit entbrannt wäre. Beinahe wäre die Installation einer Gedenktafel für Nehlhans an dieser Frage gescheitert, immerhin die erste deutlich sichtbare Ehrung des Vergessenen in der Öffentlichkeit. Durchgesetzt nach jahrelangen Bemühungen.
Dieser Trubel um Nehlhans ist aber auch deshalb so seltsam, weil sein Leben zumindest in den ersten Jahrzehnten eher unspektakulär verlief: Nehlhans stieg offenbar in den kleinen Postkartenverlag seines Vaters ein – auch wenn schon dies zweifelhaft ist, da Nehlhans später dazu Angaben machte, die fraglich sind. Klar ist, dass er 1934 die sechs Jahre jüngere Rabbinertochter Edith Perlinsky heiratete. Sie war eine lebhafte Frau, ganz anders als ihr zurückhaltender, sehr frommer Mann. Nehlhans gab später an, unter den Nazis von 1934 bis 1942 Arbeiter gewesen zu sein – ob er als ein Synagogenvorsteher Zwangsarbeit leisten musste, ist unklar. Ebenso wie die Frage, wann seine Frau und er in die Illegalität abtauchten und sich in Berlin vor den Nazis versteckten.
Edith, Zwangsarbeiterin bei Siemens, wurde bei der so genannten Fabrikaktion am 27. Februar 1943 wie die meisten anderen in der Stadt verbliebenen Juden von den Nazis abgeholt und später nach Auschwitz deportiert. Dort wurde sie umgebracht. Ihr Mann entging diesem Schicksal, doch wo er sich verstecken konnte, ist strittig. Er selber machte darüber Angaben, die mit den Erinnerungen von Zeitzeugen nicht in Einklang zu bringen sind. Manches deutet darauf hin, dass er bei einer Prostituierten unterkam, die vielen untergetauchten Juden half – was übrigens nicht so außergewöhnlich war. Unter denen, die versteckten Juden halfen, waren überdurchschnittlich viele Außenseiter der NS-„Volksgemeinschaft“: Wer selbst abseits stand, half leichter den Ausgegrenzten.
Wie auch immer: Nehlhans überlebte die Nazidiktatur – 16 Familienangehörige suchte er nach dem Krieg. Die meisten Verwandten waren umgebracht worden. Vielleicht engagierte er sich deshalb unmittelbar nach 1945 wieder für die Gemeinde in der völlig zerbombten Stadt.
Mit anderen überlebenden Juden wurde er beim ersten Stadtkommandanten von Berlin, dem Sowjetgeneral Nikolai Bersarin, vorstellig – er bat um Unterstützung für die versprengten Juden in der Stadt und um Hilfe beim Wiederaufleben ihres religiösen Lebens, was ihm besonders am Herzen lag. Nehlhans kümmerte sich um die jüdischen „displaced persons“ (DPs), die versteckt oder in Konzentrationslagern den Terror überlebt hatten. Hinzu kamen ab November 1945 Flüchtlinge der Pogrome in Polen. Die jüdische Gemeinde hatte ihren Sitz in der Oranienburger Straße neben der „Neuen Synagoge“ mit ihrer prächtigen Goldkuppel. So wie heute wieder.
Hier im sowjetischen Sektor der Stadt amtierte Nehlhans nach Wahlen in der Jüdischen Gemeinde ab Anfang 1948 als erster Vorsitzender. Flüchtlinge, die in die Stadt strömten, erhielten im Sowjetsektor Unterkünfte, Kleidung und Papiere, wurden dann aber in DP-Lager im amerikanischen oder französischen Teil der Stadt weitergeleitet. Da Nehlhans eine Fortexistenz jüdischen Lebens in Deutschland für nicht möglich hielt, setzte er sich für eine Auswanderung möglichst vieler nach Palästina ein. Das aber brachte ihn in Konflikt mit den Sowjets: Nehlhans half auch jüdischen Rotarmisten, in den Westen und von dort ins Gelobte Land zu gelangen. Er stattete sie, so die Überlieferung, mit falschen Papieren und Zivilkleidung aus.
Wahrscheinlich am 7. März wurde Nehlhans während einer Geburtstagsfeier bei Freunden vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet. Man brachte ihn in das ehemalige Nazi-Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg nördlich von Berlin. Mittlerweile hatten es die Sowjets in ein Lager für tatsächliche oder mutmaßliche NS-Täter umfunktioniert. Am 4. August 1948 wurde Nehlhans zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Er habe „aus feindlicher Gesinnung gegen die Sowjetunion“ auf eigene Initiative die Jüdische Gemeinde gegründet, so lautete ein absurder Vorwurf. Etwas verklausuliert aber wird auch der wahre Grund für seine Verurteilung genannt: Im Auftrag der Amerikaner habe er Juden aus der UdSSR und dem entstehenden Ostblock systematisch bei der Ausreise nach Palästina geholfen – als Landesverrat werteten die Sowjetrichter dies.
Nehlhans wurde, so scheint es, Opfer einer der antisemitischen Wellen, die es in der UdSSR der Stalinzeit immer wieder gab. Und offensichtlich machten ihn die Sowjets zugleich zu einer Schachfigur im Kalten Krieg, der mit der Berlin-Blockade seinem ersten Höhepunkt zustrebte. Am 14. Oktober 1948 wurde Nehlhans von Sachsenhausen in das Gefängnis Brest in Weißrussland gebracht. Danach verlieren sich seine Spuren. Wahrscheinlich starb er 1953 in einem sowjetischen Lager. Er wurde ein „Opfer des Stalinismus“, wie Lubawinski sagt – das erste übrigens, das in Prenzlauer Berg, jetzt ein Teil Pankows, öffentlich geehrt wird, wie der Bezirksbürgermeister bei der Tafelenthüllung an Nehlhans’ ehemaligem Wohnhaus hinzufügte.
Das könnte auch der Grund dafür sein, warum Nehlhans in der DDR immer mehr dem Vergessen anheim fiel – und nicht nur die Tatsache, dass er keine besonders beeindruckende Persönlichkeit war, wie Gad Beck meint. Der ehemalige Leiter der Jüdischen Volkshochschule wurde von Nehlhans, der Synagogenvorstand war, religiös erzogen. Vom sowjetischen Brudervolk verurteilt und verschleppt, wurde Nehlhans im ostdeutschen Staat offenbar zu einer Person, über die man nicht gern sprach.
Im Westen der Stadt wuchs Heinz Galinski als langjähriger Vorsitzender der entstehenden Westgemeinde und späterer Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland zu einem Übervater heran, der alles bestimmte – während Nehlhans als Übergangsfigur wohl einfach in Vergessenheit geriet. Ein Foto von ihm soll bei einem Umbau des Gemeindezentrums West-berlins in der Fasanenstraße nahe des Ku’damms einfach verschwunden sein.
Und dann gibt es noch die Gerüchte, die immer wieder geflüstert werden und die ebenfalls dazu beigetragen haben mögen, dass sich einige in der jüdischen Gemeinde nur ungern an Nehlhans erinnern wollten: Nehlhans, so lauteten die üblen Munkeleien, habe die NS-Zeit nur überleben können, da er mit den Nazis kollaboriert habe. Manch einer kolportiert, dass es diese Gerüchte schon zu Kriegszeiten gegeben habe – doch zitiert werden möchte mit Informationen dieser Art kaum jemand.
Auch der heutige Gemeindevorsitzende Andreas Nachama redet nur unwillig über diese Verdächtigungen: Solche Gerüchte seien „infam“, denn damit könne man jeden auch ohne irgendeinen Grund diskreditieren. Die freiberufliche Historikerin Annette Leo, die in einer Broschüre die wenigen bekannten Fakten über Nehlhans zusammengetragen hat, kennt diese Gerüchte. Sie hat aber „nicht die leisesten Anzeichen“ gefunden, dass an ihnen etwas dran gewesen sein könnte. Wurden die offenbar haltlosen Munkeleien vom sowjetischen Geheimdienst gestreut, um Nehlhans in seiner eigenen Gemeinde zu diskreditieren und die Solidarität mit dem von den Sowjets Verurteilten damit zu zerstören? Dafür gibt es Nachama zufolge Anzeichen. Doch so oder so: Gerüchte töten.
Wohl auch deshalb sind Werner Rosenthal und sein Bruder Stefan um den Ruf ihres Großonkels und seine Rehabilitierung schon lange bemüht. Bereits seit Mitte der Neunzigerjahre versuchten sie, das Schicksal von Nehlhans aufzudecken. Sie erreichten 1997 bei einem russischen Militärgericht eine vollständige Rehabilitierung ihres Großonkels und drangen schon seit Jahren auf seine öffentliche Ehrung.
Wüst beschimpft Werner Rosenthal jeden, der die Gerüchte, aufgekommen zuletzt bei einer Podiumsdiskussion über Nehlhans im Dezember, auch nur erwähnt. Und wer es wagt, die Frage nach der richtigen Schreibweise von Nehlhans’ Namen auch nur offen zu lassen, hat mit nicht weniger heftigen Reaktionen zu rechnen. In der Verve seines an sich ehrenwerten Einsatzes für den Verwandten schießt Werner Rosenthal dabei allzu häufig über das Ziel hinaus.
So wäre die Tafelenthüllung beinahe daran gescheitert, dass Werner Rosenthal partout die Schreibweise Nehlhans mit zwei „h“ durchsetzen wollte – die Broschüre der Historikerin Leo, die „Nehlhans“ mit kursivem „h“ schrieb, sollte nach einem Beschluss des Bezirksamts nicht verteilt werden. Werner Rosenthal erging sich in seiner Rede bei der Enthüllung der Tafel in dunklen Andeutungen, dass es ein Interesse gäbe, die Erinnerung an seinen Großonkel zu verhindern oder zu verfälschen: Es herrsche ein „massiv andauernder Gegenwind“. Empörtes Murren gab es da bei einigen Gästen der Tafelenthüllung, bei der die Broschüre übrigens dann doch verteilt wurde.
Still dabei stand die ganze Zeit Ralf Joseph, ein 80-jähriger Cousin Nehlhans’, der ebenfalls in Berlin versteckt überlebt hat. Sehr warm spricht er über seinen Vetter: Er sei ein ehrenwerter Mann gewesen, der in der DDR „regelrecht verheimlicht“ worden sei – „eine furchtbare Zeit“. Joseph wirkt deprimiert nach der Enthüllung. Er habe Angst, dass die Tafel nicht lange hängen bleibe, sagt er. Wegen der Neonazis. Und erst jetzt stört der Lärm der Straße nicht mehr. Einen Augenblick lang.
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