: „Jeder war ein Staatsfeind“
In seinem Film „Blackbox BRD“ verknüpft Andres Veiel die dritte Generation der RAF mit der Biografie eines so genannten Funktionsträgers. Ein Gespräch über Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen, deutsche Karrieren und die Sicht der Väter
Interview DIETRICH KUHLBRODT
taz: Ihr Film stellt Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen gegenüber, einen Täter und ein Opfer. Irgendwann scheinen sie ihre Rollen zu tauschen. Schließlich endet die Dramaturgie damit, dass sie aneinander vorbeilaufen, vielleicht gar nichts miteinander zu tun gehabt haben.
Andres Veiel: Es geht nicht darum, Täter und Opfer gegenüberzustellen. Das war von Anfang an genau nicht mein Interesse, zwei Linien aufeinander zulaufen zu lassen. Mich hat interessiert, was Wolfgang Grams dazu gebracht hat, im Gegensatz zu vielen aus meiner Altersgruppe – er ist sechs, sieben Jahre älter als ich –, anders zu denken, den Staat anders wahrzunehmen und noch 1984 in diesen Verein mit den drei Buchstaben einzutreten, der sich von den Jugendorganisationen der Kleintierzüchter oder der Kaninchenzüchter dadurch unterschieden hat, dass er Todesurteile fällte.
Zwei Frauen vergießen in Ihrem Film Tränen über Opfer: Mutter Grams und Traudl Herrhausen.
Männer aber auch. Vater Grams weint auch!
Traudl Herrhausen aber gewinnt man richtig lieb. Sie definiert in Ihrem Film den Toten.
Mich hat fasziniert, dass ein Mensch wie Alfred Herrhausen so viele Facetten hat. Er hat wirtschaftlich sehr früh die Notwendigkeit erkannt, die Deutsche Bank fit zu machen für den Globalisierungswettkampf, er hat die Megafusion vorangetrieben von Daimler-Benz und MBB. Andererseits setzte er sich dann für den Schuldenerlass der Dritten Welt ein, war also berührt von einem Denken, von dem ich mich frage, woher es kommt. Das Denken der Achtzigerjahre, die Erkenntnis, dass die Zeit der Welt begrenzt ist, wenn wir nicht irgendetwas tun, das ist sehr deutsch, sehr idealistisch.
Wie sind Sie an Traudl Herrhausen, die CDU-Abgeordnete im Hessischen Landtag, herangekommen?
Das habe ich über Umwege geschafft. Was lange nicht heißt, dass sie bereit war, sich mit mir zu treffen. Sie hat diesen Bereich ihrer Lebenserfahrungen vollkommen abgetrennt. Sie ist eine teilöffentliche Person im Landtag. Es war immer klar, dass sie als Frau von Alfred Herrhausen nicht Teil der Öffentlichkeit werden wollte. Und das war für mich die spannende Entwicklung, dass sie sich nach einem Jahr nicht nur bereit erklärt hatte, den Film zu machen, sondern ein eigenes Bedürfnis entwickelt hatte, diesen Film mitzutragen.
Während des Film entsteht der Eindruck, dass es der Lebenslauf von Herrhausen leichter hat. Weil eloquente Berichterstatter da sind. Und auf der anderen Seite Vater Grams, der sich um Kopf und Kragen redet, der sechzig Sekunden braucht, um einen Satz fertig zu kriegen zur freiwilligen Meldung bei der Waffen-SS.
Ich unterscheide da. Ich glaube, es wird im Film ganz deutlich, dass der Vater von Wolfgang in seinem Leben bis dahin kaum darüber gesprochen hat. Das Thema war tabuisiert. Und das Wichtige: In dem Moment, wenn die Kamera läuft, wird ihm klar, das wird jetzt öffentlich, verbunden mit der Sorge, jetzt bin ich das Nazischwein, wenn ich darüber spreche, stellen mich alle gedanklich an die Wand. Dass der Vater die Schwierigkeit, das zu thematisieren, so im Film stehen lässt, ist für mich das Größte. Das ist das eine. Und das andere ist, dass die rhetorische Qualität überhaupt nichts aussagt über die Bedeutung. Das Leben Herrhausens wird ja sehr von außen über die Bank geschildert. Und dann erfahre ich noch, dass er in der Reichsschule der NSDAP war, dass er eine Frau geheiratet hat, um in andere gesellschaftliche Sphären vorzustoßen, weil sein Schwiegervater Generaldirektor bei der VEB war. All das spricht ja nicht dafür, dass mir Alfred Herrhausen menschlich näher kommt. Irgendwann können wir dann zwangsläufig wenig über Wolfgang Grams sagen, weil wir im Bereich der Blackbox sind, wo alles nur Spekulation wäre. Ja, Wolfgang Grams müssen wir an einem bestimmten Punkt des Films allein lassen.
Man grabbelt in der Blackbox herum und zieht Widersprüchliches an den Tag. Als ob man nach einem Flugzeug- oder Geschichtsabsturz die beschädigte Box vorfindet. Für mich ist da tatsächlich etwas kaputt. Zum Beispiel Birgit Hogefeld. Warum wird sie im Film nur als Foto präsent, kommentiert von den Eltern Grams?
Als ich Alfred Herrhausen in diesen Film über die dritte RAF-Generation einbrachte, war für Birgit Hogefeld der Punkt erreicht, wo sie sagte, sie sei nicht bereit, in einem Film mitzumachen, in dem nachher links ein Foto Alfred Herrhausens, in der Mitte ein Wrack und rechts ein Foto von Birgit Hogefeld da ist. Was ich nachvollziehen kann, selbst wenn der Film etwas anderes intendiert.
Was also ist dann in der Blackbox?
Was übrig bleibt, sind zwei sehr deutsche Biografien, die an einem bestimmten Punkt sehr unterschiedlich verlaufen und gleichzeitig Affinitäten haben.
Zum Schluss haben wir zwei potenzielle Selbstmörder vor uns.
Was mir aufgefallen ist, ist die extreme Einsamkeit vor dem Tod. Bei Alfred Herrhausen ist es so, dass Traudl Herrhausen ihn nicht mehr erreicht. Sie versucht ihm zuzusprechen: „Kopf hoch, das wird.“ Sie merkt in diesem Moment nicht, in welcher Situation er eigentlich ist. Und auch Wolfgang Grams: Im Tunnel von Bad Kleinen rennt er weg, und der Spitzel Steinmetz bleibt neben Birgit Hogefeld stehen. Auch da ist ja auf einer ganz anderen Ebene noch mal eine Trennung. Er bewegt sich nach oben, während klar ist: stehen bleiben heißt überleben, heißt in den Knast zu kommen, lebenslänglich, was denn ja auch passiert. Wegrennen heißt nicht Knast, heißt unter Umständen entkommen. Oder Tod. Er ist nicht an der Seite von Birgit Hogefeld. Er stirbt allein.
In Ihrem Film ist Joschka Fischer zu sehen, wie er sich mit Polizisten haut. Warum nennen Sie seinen Namen nicht? Auch bei Otto Schily taucht der Name nicht auf.
Diese Bilder waren Archivmaterial. Wir haben mit der Arbeit Anfang September 2000 angefangen, da hatte auch ich nicht realisiert, dass auf dem Material der Außenminister zu sehen ist. Später fragten wir uns umgekehrt, ob wir die Bilder wieder rausnehmen sollen. Aber wir brauchten sie. Wir zeigen ja vorher Bilder von Polizisten, die Demonstranten an den Haaren ziehen, Polizeiknüppel in Aktion, Leute, die getreten werden. Es geht darum, dass irgendwann der Punkt kommt, auch mal zurückzuschlagen. Dass es eben eine Entwicklung ist, zu deren Eskalation auch die Polizei oder andere Staatsteile wesentlich beigetragen haben. Wir haben keine anderen Bilder gefunden, wo dies explizit wird. Wenn der spätere Außenminister zu sehen ist, wie er einen Polizisten zusammenschlägt, okay, das nehme ich dann in Kauf. Es geht mir nicht darum, ihn persönlich damit in Verbindung zu bringen, sondern Bilder zu zeigen, die diese Spirale deutlich machen. Für Leute, die das heute so nicht mehr nachvollziehen können, wenn sie nicht zufällig am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg spazieren gehen.
Sie gehören selbst zur Generation von Wolfgang Grams.
Vier, fünf, sechs, sieben Jahre Unterschied sind schon entscheidend für die Prägung. Bei mir fing es im Prinzip ein, zwei Jahre später an und auch nur deshalb, weil ich in Stuttgart-Möhringen gewohnt habe und, ohne umzusteigen, mit meiner Straßenbahnlinie nach Stammheim fahren konnte. Wir haben die Schule geschwänzt und sind zu den Prozessen gegangen. Allein das Wie. Wie man hereingelassen wurde oder eben nicht hereingelassen wurde. Wie Menschen da behandelt oder abgetastet wurden – schon immer mit dem Verdacht, dass jeder da ein Staatsfeind ist und nur danach trachtet, das ganze Ding in die Luft zu sprengen. Diese ersten Eindrücke waren für mich entscheidend. Wenn es eine Hauptprägung einer Generation gibt, dann ist es die durch die Älteren. Wo waren meine Eltern und meine Großeltern im Zweiten Weltkrieg? Mein Vater war im Russlandfeldzug, und mein Großvater war General, auch im Russlandfeldzug. Und natürlich wurden sie zu Hause am Tisch danach gefragt. Dieses Wissenwollen und dieser Bereich von Schweigen und ein bisschen Reden, ein bisschen um Kopf und Kragen reden, haben mich sehr stark geprägt.
Sie haben Ihren Vater erwähnt. Lebt er noch? Haben Sie ihm den Film gezeigt?
Noch nicht. Aber er hat alle meine Filme gesehen. Und das war letztendlich auch Teil meiner eigenen Auseinandersetzung. In meinem ersten Dokumentarfilm „Balagan“ ging es ja um die unmittelbaren Auswirkungen auf die zweite Generation in Israel. Also, wenn ich mich selbst als Teil dieser zweiten Generation begreife, der Kinder von denjenigen, die unmittelbar in die Geschichte verwickelt waren, dann ist „Balagan“ die Quintessenz davon, dass wir eben diesen Schlussstrich nicht ziehen können. Wenn in Israel eine ganze Generation beschädigt aufwächst, dann können wir nicht sagen, es geht uns nichts mehr an. Abgesehen davon, dass ich glaube, dass Auschwitz als leiser, kaum hörbarer Ton täglich vorhanden ist. Es hört ihn niemand, aber wenn wir wirklich still wären, dann würden wir merken, dass dieser Ton weiter anwesend ist, bis in die Entscheidungsfindungen, bis in die Biografien hinein. Auch in „Blackbox“ lande ich, sobald ich in einer Biografie bestimmte Bretter durchbohre, wieder in den Jahren vor 45. Das gilt auch für das Verhältnis zu meinem eigenen Vater. Das ursprüngliche Konfrontations- und Verhörprinzip wurde aber abgelöst von einem Versuch zuzuhören. Es geht nicht darum, ihn und stellvertretend seine Generation an die Wand zu stellen, sondern eher zu begreifen, was ihn angetrieben hat. Es geht darum, jedem, auch dem Vater von Wolfgang Grams, die Chance auf Entwicklung einzuräumen, auf eine eigene Sicht und auf eine eigene Geschichte, die nicht von meinen Projektionen bestimmt ist. Wenn jemand dreißig ist, kann es nicht darum gehen, die Eltern für alles verantwortlich zu machen, sondern sich zu fragen: Was mache ich damit? Wo kommt durch die Hintertür das wieder herein, von dem wir mit Fug und Recht behaupten, es zu bekämpfen. Wo taucht es bei uns selbst auf?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen