Engagierte Anwältin vor Gericht

Die türkische Justiz wirft Eren Keskin Verunglimpfung des Militärs vor. Doch das ist nur ein Vorwand. Sie will verhindern, dass sexueller Missbrauch von Frauen im Knast zum Thema wird. Die Angeklagte hatte ein Beratungsbüro gegründet

ISTANBUL taz ■ Die Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Eren Keskin ist Ärger mit Polizei und Justiz gewohnt. Mehr als 30-mal wurde sie bereits festgenommen, mehrmals angeklagt und einmal auch zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Trotzdem ist der heute gegen sie beginnende Prozess ein Novum.

Eren Keskin wird vor dem Strafgericht Beyoglu in Istanbul angeklagt, das türkische Militär verunglimpft zu haben, was im Falle einer Verurteilung bis zu sechs Jahren Gefängnis bedeuten kann. Als Beleg führt die Staatsanwaltschaft einen Artikel aus der Zeitung Yeni Gündem an. Dort wird Keskin, nachdem sie in ihrer Funktion als Anwältin Mandantinnen in der Strafanstalt Mardin besucht hatte, mit dem Satz zitiert: „Die Mütter, deren Augen verbunden und die völlig entkleidet wurden, sind durch Militärs [in der Türkei stellt die Gendarmerie die Wachmannschaften der Knäste; d. Red.] im Alter ihrer Enkelkinder sexuell misshandelt worden.“ Keskin wird also angeklagt, weil sie öffentlich wiedergegeben hat, was ihre Mandantinnen ihr berichtet hatten.

Die Anklage ist Teil einer Kampagne, die staatliche Stellen gegen Keskin und einige ihrer Kolleginnen führen. Keskin, die als Vorsitzende der Istanbuler Sektion des Menschenrechtsvereins IHD den staatlichen Organen sowieso schon ein Dorn im Auge ist, hat es gewagt, zusammen mit einer anderen Anwältin und wenigen Mitarbeiterinnen ein „Rechtsbüro gegen sexuelle Folter“ zu gründen. Damit haben sie ein Tabu gebrochen, über das bis vor kurzem in der Türkei öffentlich kaum geredet wurde.

Viele Frauen, so die erschreckende Erfahrung der Anwältinnen, werden in Polizeihaft oder im Gefängnis vergewaltigt, sexuell misshandelt oder gefoltert. Kaum eine Frau hat in der Vergangenheit darüber geredet oder gar ihre Peiniger angezeigt. Erst als Keskin und zwei weitere Anwältinnen 1997 ihre Anlaufstelle gründeten, wandten sich mehr und mehr Frauen an das Büro.

Insgesamt 136 Anzeigen wurden durch das Rechtsbüro in den letzten drei Jahren erstattet, doch bislang wurde noch kein Polizist oder Soldat rechtskräftig verurteilt. Die meisten Anzeigen werden nach Pro-forma-Ermittlungen eingestellt, viele Anzeigen werden jahrelang verschleppt und in einigen Fällen wurden die beschuldigten Polizisten freigesprochen, weil der Nachweis einer Vergewaltigung nach türkischem Recht sehr schwierig ist. Die Gerichte verlangen ein medizinisches Gutachten, dass von einem gerichtsmedizinischen Institut spätestens 48 Stunden nach der Tat erstellt werden muss. Innerhalb von zwei Tagen also soll die klagende Frau von einem staatlichen Institut ein Gutachten erstellen lassen, in dem nachgewiesen wird, dass sie in der Gewalt anderer staatlicher Institutionen vergewaltigt oder sexuell missbraucht worden ist.

Gegen diese Forderungen protestiert das Frauen-Rechtsbüro seit seiner Gründung, weil dadurch eine Anklage gegen Polizisten, respektive Soldaten, fast immer verhindert werden kann. Sie fordern, dass bei Gericht, wie in den meisten europäischen Ländern, psychologische Gutachten zugelassen werden, die auch nach einer Haftentlassung erstellt werden können. Einen Durchbruch erzielten die Anwältinnen, als die Türkei in einem ihrer Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verlor, nachdem die Richter feststellten, dass grundsätzlich psychologische Gutachten zugelassen werden sollten.

JÜRGEN GOTTSCHLICH