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Wer vergewaltigt wird, schweigt

Russische Soldaten missbrauchen in Tschetschenien auch Männer. Aus Scham wird darüber jedoch nicht gesprochen. Viele Opfer begehen Selbstmord

von LIPKAN BASAJEWA

Die „Säuberungen“ in Sernowodsk begannen am 2. Juli. Schon in der Nacht zuvor war das Dorf umstellt worden. Am frühen Morgen drangen russische Soldaten in den Ort ein. Sie stürmten in die Höfe und warfen Granaten in Keller und Dachböden. Sie jagten die Bewohner aus ihren Häusern, zerstörten Möbel und nahmen alles mit, was sie bekommen konnten: Fernseher, Videorekorder, Teppiche. Sie fingen auch das Vieh ein – Hammel, Truthähne und Hühner.

Besonders wüteten jene, die sich im Zentrum des Dorfes aufhielten. Sie beschossen Privatautos, wenn es den Eigentümern nicht rechtzeitig gelang, sich mit Geld loszukaufen. Einer Frau wurde der gesamte Goldschmuck abgenommen, dem Ladeninhaber Umarchadschiew Mamed wurde in seiner Anwesenheit der gesamte Warenbestand beschlagnahmt.

Alle Männer zwischen 14 und 60 Jahren wurden verhaftet, insgesamt über 800 Personen, unter ihnen auch zwei Frauen. Alle Verhafteten wurden auf ein Feld außerhalb des Dorfes getrieben, geprügelt und misshandelt. Viele wurden mit Stromschlägen gefoltert, nachdem ihnen an Händen und Füßen spezielle Metallringe angelegt worden waren. Opfer dieser barbarischen Praktiken wurde auch Machaew Ruslan, nur 1,30 Meter groß und von Kindheit an Invalide. Amagow Salambek wurde so schwer geschlagen und gefoltert, dass er lebensbedrohliche Verletzungen an Leber und Nieren erlitt. Danach brachten ihn die Soldaten ins Dorf zurück und warfen den Bewusstlosen auf die Straße. Nur dank der sofortigen Hilfe seiner Verwandten überlebte er. Gegen zwei Uhr morgens wurden nach diesen Folterungen rund 500 Personen wieder freigelassen. Die anderen wurden in mehreren Bussen in die Abteilung für Inneres nach Atschkoi-Martan gebracht.

Doch Schläge, Folter mit Strom, gebrochene Rippen, das war nicht das Schlimmste, was die Menschen im Zuge dieser „Säuberungen“ durchmachen mussten. Es gab noch ein Verbrechen, über das sie nur flüsternd sprechen und bitten, keine Namen zu nennen. Nach ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft, versuchten zwei junge Männer, sich das Leben zu nehmen. Magomadow Ali erlag seinen Verletzungen, Arsanukaew Sumubeka konnte gerettet werden.

Diese beiden Männer waren, wie viele andere auch, vergewaltigt worden. Als sie auf dem Feld lagen, das Gesicht zum Boden, hörten sie die Schreie von Frauen, die von russischen Soldaten vergewaltigt wurden. Andere Soldaten gingen zu den auf dem Boden Liegenden und provozierten sie mit folgenden Worten: „Warum helft ihr euren Frauen nicht? Ihr seid doch Männer, Tschetschenen!“ Viele ertrugen das nicht und sprangen auf. Da warfen sich die Soldaten auf sie und . . .

Die russische Armee setzt ihre „Säuberungen“ fort, konsequent und systematisch in jedem Dorf. Gleich nach Sernowodsk begannen die „Säuberungen“ in Assinowskaja. Über 300 Personen wurden gefoltert, nachts in den Wald getrieben und dort zurückgelassen, dabei immer der Gefahr ausgesetzt, auf eine Mine zu treten und auf Spähtrupps zu stoßen, die auf alles schießen, was ihnen über den Weg läuft. Diejenigen, die verhaftet worden waren, kehrten verstümmelt zurück. Bei den russischen Soldaten ist es Brauch, Gefangenen ein christliches Kreuz in den Körper zu ritzen.

Die Meisten haben Angst, die Täter anzuzeigen. Zwar versuchten die Opfer von Sernowodsk und Assinowskaja Klage einzureichen, zogen diese jedoch, nach „einigen Gesprächen“ wieder zurück. Auf dem Rechtsweg ist keine Verteidigung möglich. Deshalb suchen die Menschen meistens Mittelsmänner, um so ihre Verwandten aus der Gefangenschaft zu befreien. Für die russischen Militärs ist die Verschleppung von Menschen, mit dem Ziel sie von den Verwandten freikaufen zu lassen, derzeit die verbreiteste Form der Bereicherung.

Ajub wurde am Kontrollposten im Staropromyslowski-Bezirk von Grosny verhaftet. Er wurde in ein dreistöckiges Gebäude gebracht, das von allen Seiten von Betonplatten umgeben war. Man setzte ihn auf einen Metallstuhl, fesselte mit Gürteln Hände und Rumpf, setzte ihm ein Eisengestell mit Kontakten auf den Kopf und schaltete den Strom an. Ajub kann sich nicht mehr erinnern, wie lange diese Folter dauerte und wie oft er das Bewusstsein verlor. Mit Injektionen holten ihn die Soldaten immer wieder aus der Ohnmacht zurück. Nach den Folterungen warfen sie ihn in eine Wasserzisterne. Dort befanden sich auch andere Personen, wie ein Mann namens Charon. Er wurde regelmäßig geschlagen und gefoltert. Sein linkes Ohr hatte man ihm abgeschnitten. Auch die 22-jährige Rosa befand sich in der Zisterne. Sie war nackt. Um ihre Blöße vor den Männern zu verstecken, blieb sie die ganze Zeit unter Wasser. Auf Bauch und Oberschenkeln hatte das Mädchen Schnittwunden. Mehrere Soldaten vergewaltigten Rosa und die anderen sahen dabei zu. Die 16-jährige Taisa aus Grosny wurde mit gefesselten Händen an die Wand gestellt und von russischen Soldaten der Reihe nach vergewaltigt.

Nach fünf Tagen in der Zisterne kam Ajub wieder frei. Dafür bezahlten seine Verwandten 2.500 Dollar. Auch Taisa wurde freigekauft und nahm sich kurz darauf das Leben.Täglich begehen russische Soldaten hunderte solcher Verbrechen. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Die Autorin gründete 1999 die Union der Tschetschenischen Frauen und arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Memorial in Inguschetien. – Übersetzung: Barbara Oertel

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