: Der Regierende Bussi-Bär
Klaus Wowereits Aufgabe scheint schwierig genug: Neue Mehrheiten finden, Berlins zerrüttete Finanzen sanieren und das Riesenkaff endlich in eine Metropole verwandeln. Nun fällt auch noch der fröhliche SPD-Wahlkampf in düstere Terrorzeiten. Wowereits Rezept: Er küsst seine Berliner
von ROBIN ALEXANDER
Um einen Menschen zu begreifen, heißt es, müsse man dorthin gehen, wo er herkommt. Bei Klaus Wowereit fällt das leicht. Er ist nämlich immer noch dort. In Berlin. Genauer: In Berlin-Lichtenrade, einem fast dörflichen Flecken am Südrand von Berlin.
Und an diesem vernieselten Samstagnachmittag im Volkspark Lichtenrade. Die kaum fußballplatzgroße Grünanlage ist kaum einen Spaziergang von seinem Zuhause entfernt. Hier trifft der Regierende Bürgermeister das Volk, das in Lichtenrade vor allem aus älteren Damen zu bestehen scheint. Und für jede Einzelne hat Klaus Wowereit etwas: einen Kuss. Kein Höflichkeitsgehauche neben dem Ohr, sondern einen echten, dicken Schmatz auf die Wange. Ein Bussi – würde man in Bayern sagen. So kennen sie „den Klaus“ hier. Der Mann, der als interessantester Politiker des neuen Berlin gilt, hat in seinem Leben Bewegung weniger örtlich als vielmehr sozial definiert.
Vier ältere Geschwister hatte seine Mutter ohne Mann schon zu versorgen, mit harter Arbeit im Gartenbau, als Wowereit in Lichtenrade geboren wurde – 1953. Er war der Erste in seiner Familie, der es sich leisten konnte zu studieren – 1974. Er ist Regierender Bürgermeister der Hauptstadt Deutschlands – 2001. Und er lebt noch immer in Lichtenrade im gleichen kleinen, angegrauten Haus, das schon seiner Mutter gehörte.
So bodenständig ist Klaus Wowereit? Der Wowereit, über den es so viele öffentliche Bilder gibt? Für die Bild-Zeitung ist er ein Lügner, weil er behauptet, mit seinem mutig-dreisten „Schwul-Und-Das-Ist-Gut-So“ einem Outing auf der Titelseite zuvorgekommen zu sein. Für Homosexuelle steht sein Name seitdem synonym für selbstbewusst-entspannte Emanzipation. Für Leute, die sich mit Finanzen beschäftigen, scheint er kaltherzig genug, die auf Subventionen konditionierten Berliner das Sparen zu lehren. Und für seine Gegner von der CDU ist er die schlimmste aller Rothäute, an deren Gürtel noch die Skalps von Diepgen und Landowsky blutig baumelten, als ihn die PDS kurz vor dem 40. Jahrestag des Mauerbaus zum Regierenden Bürgermeister wählte. Ziemlich viele Bilder von einem, der erst wenige Monate in der breiten Öffentlichkeit steht. Ziemlich starke Bilder auch – dabei sieht der Mann aus wie ein Softie!
Wie er schon steht und geht: Immer ein bisschen in den Knien, immer lässig, die Hände nicht in den Taschen des Jacketts, sondern in der Hose. Anspannung sieht anders aus. Schon ein schöner Mann, dieser Wowereit, aber keiner, in dessen Gesicht Arbeit oder Schicksal Konturen gegraben haben. Das Antlitz mit 47 Lebensjahren immer noch weich. Weich wie dieser Name, der angeblich aus dem Litauischen kommt und „Eichhörnchen“ bedeutet, und dem flaumige Konsonanten und dunkle Vokale einen in der deutschen Sprache selten samtenen Anklang geben. Die „Kuschel-Linken“ hieß eine SPD-Formation, als deren Koordinator Wowereit im Berliner Abgeordnetenhaus zuerst von sich reden machte.
Sanftheit und Durchsetzungsfähigkeit. Eine Kombination von Tugenden, die man eigentlich eher bei Frauen findet. Frauen, die ihn lange kennen, erzählen daher auch, wie er mit seinem behinderten Bruder in die Ferien fuhr. „Weil er weiß, wie wichtig ein Urlaubserlebnis für Menschen ist“. Und wie er am Lebensabend seiner pflegebedürftigen Mutter teilnahm. Verantwortung für Familie zu übernehmen – ganz selbstverständlich. Auch diesen klassisch weiblichen Vorzug scheint Wowereit zu haben.
Vielleicht hatten sie ja auf so einen nur gewartet in der Berliner SPD. Auf einen, der anders war als die vielen rivalisierenden Kraftmeier und Maulhelden. „Diese bewusst zu Schau getragene Lust auf Karriere“ anderer sozialdemokratischer Führer, erzählt die Berliner Bundestagsabgeordnete Ingrid Holzhüter, „die wurde bei Klaus immer aufs Angenehmste vermisst. Er macht es wie die Chinesen. Er kann jemanden besiegen ohne ihm das Gesicht zu nehmen.“
„Setz ihn ab, Klaus!“ forderte eine erregte Fraktion, als der schulpolitische Sprecher das ideologisch aufgeladene Thema Religionsunterricht nicht in den Griff bekam. Aber Klaus schickte den Gescholtenen nicht in die Wüste, sondern überließ ihm fortan die weniger umstrittene Wissenschaftspolitik. Da war Wowereit schon Fraktionsvorsitzender – und immer noch bemüht, sich Freunde zu machen.
Freunde machen ist für ihn nicht nur politische Notwendigkeit, sondern sein Naturell. Im Lichtenradener Nieselregen belästigt ihn ein Bierstand-Betreuer mit einer Anekdote, die so entsetzlich dröge ist, dass man ihren Inhalt hier gar nicht wiedergeben mag. Wowereit aber lacht und prostet fröhlich: „Dit is Berlin.“ – „Wat jibts hier zu lachen Klaus?“, fragt da sogar eine ankommende Dame mit Kurzhaarfrisur. Um jeden Widerspruch zwischen seinen Sympathisanten im Keim zu ersticken, gibt Wowereit der Frau zur Begrüßung einen dicken Kuss.
Seine Methode, Karriere zu machen, beschreibt Wowereit selbst so: „Ich habe niemals systematisch daraufhin gearbeitet, in höhere Ämter zu kommen. Man ist immer am besten, wenn man einfach versucht, seine aktuellen Aufgaben so gut wie möglich zu bewältigen.“ Klingt unglaubwürdig, dieses Leugnen von Ambitionen. Aber analysiert man die Wowereit’sche Karriere, scheint doch etwas dran zu sein. Ganz früh in der Partei und ihrer Jugendorganisation aktiv, engagierte sich Wowereit ausgerechnet dort nicht, wo sich vermeintliche Talente sonst die Hörner abstoßen: an der Uni. Er wurde, als andere noch im Examen steckten, Stadtrat für Volksbildung in Tempelhof, dem Berliner Bezirk, zu dem auch sein Heimatflecken Lichtenrade gehört – dreißig war er damals und Stadtrat geworden, „weil mein sehr guter Vorgänger krank wurde.“
Ins Abgeordnetenhaus wäre er gerne schon 1985 eingezogen, geklappt hat es erst zehn Jahre später. Alles nach dem Prinzip Lückenbüßer. Wer hätte denn außer ihm 1999 den Vorsitz der dezimierten und gedemütigten Fraktion übernehmen sollen? Noch wichtiger war für Wowereit der Hauptausschuss, ein wenig exponiertes, jedoch absolut zentrales Gremium der Berliner Landespolitik: Hier wird verhandelt, wohin das öffentliche Geld geht. Ingrid Holzhüter beschreibt die Wichtigkeit des Hauptausschusses so: „Da kommt man ohne drei Bürgen gar nicht rein“. Wowereit wurde rasch Sprecher. „Dort habe ich mir die Erfahrung geholt, die mir jetzt als Regierender zu Gute kommt“, meint er selbst. „Erfahrung“ kann man es auch nennen. Holzhüter wird deutlicher: „Macht und Durchblick hat er sich dort verschafft.“
Und neue Verbündete: In diesem Gremium sitzt auch Harald Wolf, früher linker Grüner, heute Fraktionschef der PDS. Wowereit sagt knapp: „Wolf ist einer, der rechnen kann.“ Im Gegensatz zu Diepgen. Und Wolf ist einer, dessen PDS-Kollegen Wowereit zum Bürgermeister wählten. Im Gegensatz zur CDU. Macht und Durchblick und Verbündete brauchte Wowereit. Denn um noch höher zu steigen, reichte lächelnde Geduld allein diesmal nicht. Die nächste Lücke, in die er stoßen wollte, musste Wowereit sich selbst brechen. Als Stemmeisen diente ihm die Pleite der Berliner Bankgesellschaft und eine skandalöse Parteispendenannahme von Klaus Landowsky. „Die Ultimaten gegen Landowsky in der SPD durchzusetzen war schwieriger als später die Neuwahlen“, erzählt Wowereit. Was war der Schlüsselfaktor, der zum Bruch der großen Koaltion führte? „Der Schlüsselfaktor hieß Wowereit.“, sagt Wowereit und lächelt nicht mehr.
Einer, der dabei war, erinnert sich an die entscheidende Sitzung im Leben des Klaus Wowereit: „Die Genossen haben mit Fingern auf Klaus gezeigt: ‚Wenn das schiefgeht, weißt du ja, wer dafür die persönliche Verantwortung übernimmt‘.“ Verantwortung übernahm schließlich Landowsky. Die Symbolfigur für das Westberliner System der Verquickung von Parteiinteresse, Staats- und Privatunternehmen trat tatsächlich zurück.
Westberlin, wer verstehen will, was das gewesen ist, der hat mit Klaus Wowereit im Volkspark Lichtenrade den richtigen Mann am richtigen Ort erwischt. Zwei riesige Hochhäuser haben die Modernisierungsfanatiker der 70er Jahre hier zwischen das kleine Eigentum gestellt. Als die Bürger merkten, dass ihnen vor lauter Beton die Luft wegbleibt, erkämpften sie sich die Begrünung einer Restbrache: im Rausch des Sieges euphemistisch Volkspark genannt. Seit die Mauer fiel, ist Lichtenrade wieder umgeben von freier Flur so weit das Auge blickt – aber die Lichtenradener feiern tapfer weiter ihr Volkspärkchen zwischen den Hochhäusern.
„Dörflich“ sei Lichtenrade, sagt Wowereit. Gesangsverein. Kirchengemeinde. Winzerfest. Ein Milieu, das viele Andersdenkende und gerade Andersliebende repressiv nennen würden. Wowereit nennt es „intakt“. Jeder, der hier hinter einem Tapeziertisch steht, hat einen Vornamen für Wowereit und eine Hand zum Schütteln. Oder eine Wange zum Küssen – selbstverständlich. War das nicht das Erfolgsrezept von Eberhard Diepgen, von dem die älteren Kollegen sagen, er habe „jeden Gullideckel in Berlin gekannt“? Aber Wowereit soll das Riesenkaff Berlin doch endlich aus dem Mief holen, endlich zur Metropole machen! Vielleicht schließt sich das gar nicht aus: Wowereit ist sowohl die Fortsetzung des Systems Diepgen als auch seine Überwindung. Der Neue Wowereit hebt den Alten Diepgen im Hegel‘schen Sinne auf: Er bewahrt Volksnähe und Kleinteiligkeit des Denkens und strebt doch zur Veränderung.
Dafür geht er bis an die Schmerzgrenze. Nicht unbedingt an seine eigene, aber schon an die von Landowsky, der gut sichtbar bis zur körperlichen Auszehrung leidet, seit sein Sturz Wowereits Aufstieg zum Regierenden begründete. Den Leuten allerdings mag Wowereit nicht wehtun. Von der Masse der Menschen will er geliebt werden. Gäbe es in Berlin nur eine genügend große Anzahl an Menschen, die sich jenseits konservativer Propaganda wirklich als Opfer von SED und Teilung sähen, Wowereit hätte die Kooperation mit der PDS niemals eingefädelt.
„Mentalitätswechsel beginnt damit, der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen: So kann es nicht weitergehen“, formuliert Wowereit in Interviews. Das wird sein Dilemma: Langfristig kann ein Politiker in dieser Stadt nur gut sein oder geliebt werden. Berlin küssen oder seine Finanzen sanieren. Wofür wird Wowereit sich entscheiden?
Im Volkspark Lichtenrade klingt das so: Beim frischgezapften halben Liter garantiert Wowereit, dass die Schulklassen nicht größer werden. Bis vor wenigen Wochen wagte er noch, öffentlich Einsparungen bei der Verwaltung der Polizei zu fordern. Seit den Terroranschlägen in den USA beißt er sich auch bei diesem Thema auf die Zunge. Manchmal scheint es, sein Mentalitätswechsel könnte sich am Ende auf den Slogan eines seiner Plakate reduzieren: „Berlin muss sparen. Sparen wir uns erst ‘mal die CDU.“
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