Der Hausmann und der Weltmann

Umgekehrte Verhältnisse: Der US-Präsident bleibt daheim, der britische Premier will die Welt verbessern. Sie beherrschen ihre Rollen fast fehlerlos

Wenn es nach George W. Bush ginge, könnte genau jetzt die Zeit stehen bleiben. Dass 90 Prozent der US-AmerikanerInnen seine Präsidentschaft lobpreisen – die berühmten approval rates der Demoskopiemaschine –, wird ihm in seiner Amtszeit nicht wieder passieren. Es kann nur noch abwärts gehen. Der 55-Jährige weiß das, und er dürfte auch ahnen, dass die Ergebnisse der Meinungsumfragen nicht viel mit ihm selbst zu tun haben. Nach den Anschlägen auf New York und Washington müsste sich ein Präsident schon sehr dumm anstellen, um die Öffentlichkeit nicht auf sich einschwören zu können.

So besteht das tatsächliche Verdienst darin, nach den verkorksten ersten Tagen unmittelbar nach dem 11. September nicht mehr allzu viele große Fehler gemacht zu haben – eine echte Überraschung, an der sein Mitarbeiterstab großen Anteil trägt. Bushs Cowboy-Sprache kam bei jenen gut an, denen vieles andere zu kompliziert ist, und die Ausstrahlung von Kompetenz und Besonnenheit, derer sich sein Kriegskabinett befleißigte, ließ die Öffentlichkeit darauf schließen, die Regierung wisse, was sie tue.

Bush selbst beschränkt sich darauf, die Rolle auszufüllen, die ihm zugedacht ist. Der britische Premier Tony Blair hält die Reden an die Welt, US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gibt die spärlichen militärischen Erläuterungen – und George W. Bush wendet sich vertrauensvoll an die Bevölkerung. Es ist kein Zufall, das Bush seit dem 11. September keine Auslandsreise unternommen hat, obwohl die USA dabei sind, eine weltweite Koalition zu schmieden: Es ist einfach nicht sein Job. Wenn Bush spricht, spricht er zur Nation.

Natürlich musste er als Oberbefehlshaber am vergangenen Sonntag den Beginn der Bombardierungen Afghanistans erklären. Seine ersten Worte in dieser Rede waren „on my orders“ – auf meinen Befehl –, und das klang ein bisschen, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass es wirklich er war, der das Losschlagen entschieden hatte.

Die Öffentlichkeit ist genügsam, die Medien – sogar die an sich Bush-kritischen – rücken zusammen und spielen mit. Die Washingtoner Medien werden von Bushs Beraterkreis mit gezielten und gewollten Indiskretionen gespickt, die alle zeigen sollen, wie meinungsstark und durchsetzungsfähig der Präsident ist. Da erzählt Karen Hughes, eine der engsten Bush-Beraterinnen, ganz bedeutungsschwanger der Washington Post, dass es der Präsident persönlich gewesen sei, der auf Lebensmittelhilfen für die afghanische Bevölkerung gedrängt habe: „Ich will sicherstellen, dass die humanitäre Sache läuft, wenn wir mit den Militäroperationen beginnen“, soll Bush laut Hughes gesagt haben. Und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice lobte ihren Chef, er habe schon sechs Tage nach den Anschlägen Afghanistan als erstes Ziel von Militärschlägen bestimmt. Übersetzt heißt das: Sie selbst und der Sicherheitsapparat haben das entschieden, und der Präsident hatte nichts dagegen. In normalen Zeiten würden New York Times und Washington Post das auch schreiben. Aber die Zeiten sind nicht normal. Was alle wussten, als Bush nach dem peinlichen Wahlgemauschel im Dezember vergangenen Jahres zum Sieger über Al Gore erklärt wurde, bestätigt sich derzeit erneut: Der Präsident ist schwach, sein Team ist stark. Bloß: Das schadet ihm überhaupt nicht.

Es ist an ihm, die Bevölkerung zu beruhigen. Er selbst eröffnet den Ronald-Reagan-Flughafen in Washington wieder und erklärt den Menschen im Lande, dass sie normal weiterleben und bitte auch Flugzeuge besteigen sollen. Er lobpreist bei jeder Gelegenheit die Stärke und Herrlichkeit der Vereinigten Staaten von Amerika, er ehrt die gefallenen Helden der Feuerwehr, verkündet die staatlichen Hilfen für die Wirtschaft und erklärt wieder und wieder, der Kampf gegen den Terrorismus sei lang und schwierig.

Schwierig wird es auch für Bush – wenn der Krieg zu lange dauert, wenn die Ergebnisse nicht wirklich vorzeigbar sind, wenn gar ein neuer Anschlag die USA erschüttern sollte, wenn es mit der Wirtschaft weiter bergab geht. Die derzeitige Geschlossenheit des Kongresses – in dem die Republikaner das Repräsentantenhaus, die Demokraten aber den Senat kontrollieren – wird nicht ewig halten. In gut einem Jahr stehen die midterm elections an, bei denen die republikanische Mehrheit auch im Repräsentantenhaus kippen könnte; und republikanische Meinungsforscher projizieren schon jetzt, dass Themen wie Wirtschaft und Arbeitslosigkeit das Wählerurteil über die Bush-Regierung mehr bestimmen könnten als der Krieg, der zu amorph ist, um ein sichtbares Ende zu nehmen.

So steht nicht nur die internationale Koalition auf wackligen Füßen, sondern auch die Zukunft der Bush-Regierung. Wenn die ersten Rauchschwaden abgezogen sind, wenn die Trümmer des World Trade Centers endgültig abgeräumt sind, dann werden sich auch die Werte der Bush-Regierung wieder normalisieren. Und dann könnte es plötzlich auch wieder wichtig werden, ob ein Präsident weiß, wovon er spricht.

Bei einer Rede vor den Angestellten des Arbeitsministeriums sagte George W. Bush in der vergangenen Woche: „Wir werden stark und resolut sein, wenn wir zusammenstehen, um die Freiheit zu sichern, das Böse auszurotten, um unseren Kindern und Enkelkindern zu sagen, dass wir mutig genug waren, um unermüdlich zu handeln, damit sie in einem großartigen Land und einer friedlichen Welt leben können. Und ich habe keinerlei Zweifel, dass wir scheitern werden.“ Der Mann bleibt sich treu, auch in schwierigen Zeiten.

BERND PICKERT

Die böswillige Interpretation ist, dass Tony Blair sich am liebsten mit Problemen beschäftigt, deren Lösung nicht von ihm abhängt. Die gutwillige lieferte der britische Premier selber. Auf dem Labour-Parteitag vergangene Woche sagte er mit Blick auf die Anschläge des 11. September: „Aus dem Schatten dieses Übels sollte dauerhaft Gutes hervorkommen.“ Mit Blair als Geburtshelfer.

Nicht nur beteiligt sich Großbritannien als einziges Land von Anfang an an der US-Militäraktion gegen Afghanistan. Premierminister Blair hat auch eine Rolle übernommen, die eigentlich dem US-Präsidenten zustünde: Er ist der Wortführer. Während George Bush die Heimatfront pflegt, geriert sich Tony Blair als ideologischer Führer der „freien Welt“. Aus London, nicht aus Washington kommen Grundsatzreden, die den Sinn des Krieges definieren: „Die Zerstörung der Terrorismusmaschinerie, wo immer sie sich befindet; unter allen Nationen Hoffnung auf einen Neuanfang, in dem wir Differenzen in ruhiger und geordneter Weise zu lösen versuchen; größeres Verständnis zwischen Nationen und Religionen; und vor allem Gerechtigkeit und Wohlstand für die Armen und Mittellosen, sodass Leute überall die Chance einer besseren Zukunft durch die harte Arbeit und schöpferische Kraft des freien Bürgers wahrnehmen, nicht durch die Gewalt und Wildheit des Fanatikers“. Man stelle sich vor, wie George Bush diese großen Worte meistern würde.

Mit dem Krieg hat der 48-jährige Blair endlich eine seiner Vorstellungskraft angemessene Mission für die zweite Amtszeit gefunden. Nachdem er als Oppositionsführer 1997 die Identität der Labour-Partei zu New Labour umgekrempelt hatte und danach als Premierminister die parteipolitischen Machtverhältnisse Großbritanniens (New Britain), ist jetzt das politische Selbstverständnis der ganzen Welt an der Reihe: „New World Order“ hieß das einmal. Das ist auch spannender als die Aufgabe, die Blair nach seiner Wiederwahl im Juni zunächst drohte: den Verfall der staatlichen Dienstleistungen Großbritanniens aufzuhalten.

Im New-Labour-Jargon ist die neue Herausforderung ganz einfach zu definieren. Der Begriff community, die Gemeinschaft als Zentrum gemeinsamer gesellschaftlicher Werte, wird zur „Weltgemeinschaft“ erweitert. Die soll ihre gemeinsamen Wertvorstellungen positiv umsetzen – oder sie ist zum Untergang im Strudel ökonomischer und politischer Egoismen verdammt. Das ist die globalisierte Version von Blairs „drittem Weg“. In seinen Worten: „Es gibt ein Zusammenkommen. Die Macht der Gemeinschaft ist dabei, sich durchzusetzen. Wir merken, wie zerbrechlich unsere Grenzen angesichts der neuen Herausforderungen der Welt sind.“ Die „Macht der internationalen Gemeinschaft“ könne, „wenn sie wollte“, Afrika entwickeln, die Umwelt retten, den Nahostkonflikt lösen und noch einiges mehr.

„Von da oben muss das Parlament ziemlich klein aussehen“, lästerte die Tageszeitung Independent und kritisierte die „nahezu vollständige Himmelfahrt Tony Blairs“. Wenn sich die Haltung des Premiers in solchen Höhenflügen erschöpfen würde, dürfte das die Briten schnell ermüden und Blair müsste damit rechnen, sich lächerlich zu machen. Aber er ist gerade rechtzeitig von den Wolken des Weltphilosophen in die Schützengräben des Krieges hinabgestiegen.

In seinen Erklärungen seit Sonntagabend beschreibt Blair keine Visionen mehr, sondern Risiken – wenn auch zuweilen in einer Sprache, die dem Zeitalter der Weltkriege entlehnt scheint: „Wir sind ein friedliches Volk. Aber wir wissen, dass wir manchmal kämpfen müssen, um den Frieden zu sichern.“ Selbst der stockkonservative Daily Telegraph findet Blair jetzt plötzlich „viel besser“ als bei seiner Parteitagsrede: „Denn er war auf etwas Spezifisches beschränkt, was tatsächlich passiert ist.“

Die nächste Entsprechung dazu ist im größten britischen Krieg der viktorianischen Ära zu finden: Der Burenkrieg von 1899 bis 1902, in dem das Empire die Sezession der Burenstaaten Transvaal und Oranjefreistaat im heutigen Südafrika gewaltsam beendete. Der Feldzug kostete mehr britische Leben als sämtliche Kolonialexpeditionen zusammen – mit Ausnahme der gescheiterten Eroberung Afghanistans 1843. Der Krieg in Afrika ging einher mit einer davor unbekannten patriotischen Mobilmachung des ganzen britischen Volkes – es war der Beginn der dauerhaften Teilnahme des britischen Proletariats an der nationalen Politik und daher für die Vorgeschichte der Labour-Partei wichtiger, als sie selbst zugeben würde.

Parallelen drängen sich heute vielen britischen Beobachtern auf: Blair, dem es – wie britischen Kolonialherren – darum gehe, wilde Muslime zu zivilisieren. „Um einen Schuljungen zu finden, der altmodisch genug ist, den gesamten Globus im liberalen angelsächsischen Antlitz ummodeln zu wollen, muss man in die viktorianische Ära zurückgehen“, bemerkte der Schriftsteller A. N. Wilson am Sonntag in einer Zeitungskolumne.

Solche Mäkeleien ändern aber nichts daran, dass Blairs Vorgehen effektiv ist – egal, ob er die Rolle des Chefphilosophen oder die des obersten Feldherrn einnimmt. So stellte er jetzt ein Kriegskabinett mit sieben seiner Minister zusammen. Dessen erstes Treffen beherrschte gestern die Nachrichten und hielt die entscheidende Vokabel „Krieg“ in den Schlagzeilen. Denn sobald von Krieg die Rede ist, rücken die Briten zusammen und begeben sich geistig in die Position eines tapferen kleinen Asterix, der es mit der ganzen Welt aufnehmen kann – mit Blair als Druiden, der den rhetorischen Zaubertrank verteilt. DOMINIC JOHNSON