Die Advokatin des Details

Einfach, aber kompliziert: Sibyll Klotz, Frau, Ostdeutsche, Alleinerziehende, setzt als Spitzenkandidatin der Grünen in der Wahlschlacht um die Hauptstadt Berlin auf die eigene Glaubwürdigkeit. Manche in der Partei glauben, das reiche nicht.

„Ich will mich nicht von der Wahrheit verabschieden“

von ANDREAS SPANNBAUER

Sie wäre bestimmt ein gutes Mitglied des Elternfördervereins geworden. Wahrscheinlich gibt es nicht viele Mütter, die sich so aufregen, wenn ein Pausenhof „wie der letzte Husten aussieht“ oder die sich so freuen, wenn endlich genügend Spenden für eine Kletterwand zusammengekommen sind.

Sibyll Klotz spricht engagiert, lässt ihr Gegenüber nicht aus den Augen, gestikuliert heftig. Gerne, sagt sie, während am Autofenster das Rote Rathaus vorbeizieht, wäre sie dem Elternförderverein am Gymnasium ihrer 17-jährigen Tochter beigetreten. Es ist nichts geworden daraus. Sibyll Klotz, Spitzenkandidatin der Grünen für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin, hatte keine Zeit.

An diesem Tag, knapp zwei Wochen vor der Entscheidung über die politische Zukunft der Bundeshauptstadt, ist die Spitzenkandidatin in den Jugendclub „Würfel“ eingeladen. Draußen vor dem realsozialistischen Flachbau in Berlin-Mitte scheint die Sonne, der Himmel ist blau. „Ooch, so schönes Wetter“, sagt sie. Dabei schwingt ein bisschen Wehmut mit. Kein Zweifel: Sibyll Klotz weiß, dass es Schöneres in diesem Leben gibt als diesen Wahlkampf.

Doch dann geht sie schwungvoll nach drinnen. Eine Independent-Rockband spielt, es ist zu heiß, die Luft stickig, Jugendliche sitzen auf dem Boden herum. Für Klotz, die Kandidatin aus dem Osten, müsste ein Heimspiel bevorstehen. Das Motto der Veranstaltung lautet: „Wer die Wahl hat, hat die Qual“.

Sibyll Klotz hat es alles andere als leicht an diesem Nachmittag. Ein großes Hallo gibt es nur für einen, der viel später zur Podiumsdiskussion kommt als sie: Gregor Gysi, ihr Konkurrent von der PDS. Irgendjemand hat sie auf dem Podium links außen postiert. Klotz hat die Arme meist verschränkt, hinter dem Rücken oder vor der Brust. „Dit darf keene reine Männernummer werden“, hat sie gesagt, als sie zur Wahl antrat. Es ist diese Trotzigkeit, die auch in der Gestik ihren Ausdruck findet. Trotzdem kann sie sich nicht immer durchsetzen. „Hallo, Herr Gysi, lassen Sie mich doch mal ausreden“, appelliert sie einmal.

Auf der Bühne wirkt sie schemenhafter als im persönlichen Gespräch. Die Statements der Kandidaten sind eingespielt, aus unzähligen Veranstaltungen bekannt. Klotz fehlt der Mut, sie immer wieder als neu zu verkaufen.

Es geht, natürlich, um die Situation an den Schulen und um das Geld, das Berlin nicht hat. Tapfer verteidigt Klotz die Taten des rot-grünen Übergangssenats gegen aufgeweckte Schüler und wütende Sozialarbeiter, die sich unauffällig unter die Jugendlichen gemischt haben. Der Ärger über die eingesparten Gelder im Jugendbereich ist riesig. Klotz hält mit kleinen Verbesserungen dagegen, erzählt von 60 neu geschaffenen Lehrerstellen. „Das sind Geschichten, die sind keine Revolution“, sagt sie in solchen Momenten entschuldigend, um dann wieder den Kopf auf den Händen aufzustützen.

Klotz ist keine Wahlkämpferin. Keine, die sich beim Betreten eines Podiums aufplustert. Keine, die sich auf die Gesprächsrunden mit den „Großkopferten“ freut. Die breitbeinige Pose überlässt sie einem ihrer männlichen Konkurrenten. Keine affektierte Frisur. Keine „Stirnbandfeministin“. Eine, die gerne Doppelkopf spielt. Ihr Lieblingsroman ist „Das Geisterhaus“ von Isabel Allende. Weil darin selbstbewusste Frauen die Hauptrolle spielen: „Mit ihrer Willenskraft nehmen sie nicht nur ihr Leben in die Hand, sondern können sogar Möbel und andere Dinge bewegen“, hat sie unlängst einer Zeitung verraten.

Nicht nur das Leben, sondern auch die Möbel in die Hand nehmen: Am Konkreten hängt, zum Bodenständigen drängt doch alles bei dieser Frau. Eine einfache Spitzenkandidatin. Ihren – verschwindend geringen – Bekanntheitsgrad hat das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap gar nicht erst abgefragt. Nur Frank Steffel, ihr Widersacher von der CDU, ist unpopulärer.

Sibyll Klotz stört das nicht. „Mir ist Sachpolitik lieber als Wahlkampf“, sagt sie entschieden. Den Zusammenhang von politischem Erfolg und Popularität ignoriert sie erfolgreich. Selbst als alle Welt über das Outing des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit sprach, war von der Homosexualität der Sibyll Klotz in der Öffentlichkeit keine Rede. Sie inszenierte sie nicht.

Auf dem Podium bleibt die Hoffnungsfrau der Grünen für eine Spitzenkandidatin immer eine Spur zu kleinteilig. In der Hitze des Wahlkampfes, in der die Kunst der Vereinfachung gefragt ist, reichen Realismus und Detailkenntnis nicht aus: Was sind schon 60 neue Lehrerstellen gegen eine Bildungsmisere? Was nützt die Sachkompetenz, wenn der Konkurrent von der PDS einen intellektuellen Schönheitssalon betreibt? „Die Berliner wollen nicht nur Talkshows“, beharrt sie eisern. Aber wollen sie auch in den Genuss jener Langeweile kommen, die moralischen Menschen öfter eigen ist, als ihnen lieb ist? Der mäßige Beifall des Publikums spricht dagegen.

Eine österreichische Redensart lautet: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Bei den Grünen ist die Lage nicht ernst, sondern hoffnungslos. Gerade hat die Partei in Hamburg die sechzehnte Landtagswahl in Folge verloren. In der Bundeshauptstadt müssen die Grünen den Trend brechen, wenn sie nicht weiter in die Katastrophe schlittern wollen. 9,9 Prozent bekamen die Grünen bei der letzten Berlin-Wahl 1999. „10 Prozent plus X“ will Klotz nun erreichen.

Warum sie in dieser Situation an die Spitze wollte? „Wir müssen zeigen, dass wir es können“, antwortet sie. Wir, das sind vor allem die Parteifreunde aus dem Osten, die sie zu einer Kandidatur ermutigt haben. „Wir dürfen nicht kneifen, wenn es drauf ankommt“, schiebt sie zur Bestätigung hinterher. Und dann war da natürlich die Tochter, die ihren Geburtstag auf dem Nominierungsparteitag feierte und der allein erziehenden Mutter zuvor geraten hatte: „Mach doch mal!“

Vor allem aber war da der Zeitdruck. Als alle anderen Parteien ihre Spitzenkandidaten längst vorgestellt hatten, merkten auch die Grünen, dass sie schnell handeln mussten. Klotz musste ins kalte Wasser springen. „Dass ich so stark im Mittelpunkt stehen würde, damit habe ich nicht gerechnet“, gibt sie zu. Zwar war sie schon einmal, 1995, überraschend als Spitzenkandidatin nominiert worden. „Das gibt’s doch nicht“, hatte sie damals verblüfft gestammelt. Klotz holte beachtliche 13 Prozent. Doch mit dem Rummel dieser zur Schicksalswahl hochstilisierten Entscheidung, für die andere Parteien ihre bundespolitische Prominenz antreten ließen, sei dies „nicht zu vergleichen“. Jetzt strahlt ihr Gesicht tausendfach von gelb-roten Plakaten, deren Design eine interessante Mischung aus Waschmittelreklame und maoistischer Gehirnwäschepropaganda darstellt.

Zeigen, dass man es kann. Mitunter hat sie in der Vergangenheit politisches Gespür bewiesen. Im Sommer des vergangenen Jahres zum Beispiel. Ein schneller Bruch der großen Koalition war damals für viele so vorstellbar wie eine Lossagung Berlins von der Bundesrepublik Deutschland. Klotz aber rief die SPD zum vorzeitigen Verlassen des Bündnisses mit der CDU auf. Ihr Ersatzangebot: eine Zusammenarbeit mit der damals noch stigmatisierten PDS. Das es so rasch dazu kommen sollte, glaubte Klotz freilich selbst nicht.

Auch als im Winter dann die Affäre um die Bankgesellschaft Berlin und die Spendenaffäre um den mächtigen Bankmanager und CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus Landowsky das Machtgefüge der Stadt erdbebenartig umstürzten, war es die grüne Fraktionsvorsitzende, die zusammen mit dem jetzigen grünen Justizsenator Wolfgang Wieland auf radikale Schritte drängte. „Beruhigt euch mal wieder“, hielten ihr damals andere aus der Partei entgegen. „Wir brauchen jetzt keine politischen Abenteuer“, habe ihr die PDS-Vorsitzende Petra Pau gesagt. Keine sechs Monate später zerbrach die große Koalition.

Zeigen, dass man es kann. Für Sibyll Klotz – eigentlich: Sibyll-Anka Klotz – ist diese trotzige Beharrlichkeit zu einem Grundzug ihrer Persönlichkeit geworden, genauso wie das schnodderige Selbstbewusstsein, das für viele DDR-Frauen typisch ist. Geboren 1961 in Ostberlin, wuchs sie bei Mutter und Großmutter in der Gemeinde Petershagen im Osten Berlins auf. Die lehrten sie vor allem eines: „Bildung und materielle Unabhängigkeit von einem Mann sind wichtig.“ Nach dem Abitur studierte sie an der Humboldt-Universität, machte 1984 ihr Diplom als Philosophin, promovierte hinterher über August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“.

„Wir dürfen nicht kneifen, wenn es drauf ankommt“

Als 22-Jährige trat Klotz in der Hoffnung auf einen „menschenwürdigeren Sozialismus“ in die SED ein. Erst 1989 kehrte sie der Partei den Rücken, der sie in den Jahren der Agonie nur noch aus Bequemlichkeit angehört hatte. Nach ihrem Austritt gründete sie den „Unabhängigen Frauenverband“ mit, für den sie sogar ins Berliner Abgeordnetenhaus einzog. 1991 wechselte Klotz dann zu den Grünen. Dort engagierte sie sich zunächst in der Frauenpolitik, nicht zuletzt für eine unbegrenzte Abgabe von Kondomen an Sozialhilfeempfänger. Später entdeckte sie ihre Liebe zu den harten Themen, wechselte in die Arbeitsmarktpolitik: „Mit Frauenpolitik kann man keine Karriere machen.“

Zeigen, dass man es kann. Nicht alle in der grünen Partei waren davon überzeugt, dass es Sibyll Klotz ist, die es kann. Von einem „Laienschauspiel“ ist in der Bundespartei die Rede, von „mangelhafter Vermarktung“ der Inhalte, vom Fehlen einer „strategischen Linie“. Der Berliner Landesverband, ungewillt, sich von oben eine Importlösung vorsetzen zu lassen, sieht das anders. „Sie ist glaubwürdig und kommt auch so rüber“, sagt die Berliner Wahlkampfleiterin Kirsten Böttner.

Klotz nicht nur die einzige Spitzenkandidatin neben dem Männerquartett der anderen Parteien. Sie ist auch die einzige, die mit ihren Ambitionen auf ein Regierungsamt auffällig hinter dem Berg hält. Sicher, in ihrem Fachgebiet, der Arbeits- und Sozialpolitik hätte sie genügend gute Ideen, die sie gerne umsetzen würde. Aber eben nur da. „Ich mache nichts, wovon ich keine Ahnung habe“, sagt sie.

Zugegeben: Für viele Rückschläge des grünen Wahlkampfes konnte sie nun wirklich nichts. Da war die Aufmarsch deutscher Truppen nach Mazedonien, Auftakt für eine neue Zerreißprobe der Friedenspartei a. D. Da war, viel wichtiger, der Anschlag in den USA, der jede Gewöhnlichkeit beendete. Wo lag gleich nochmal Berlin? Was war mit dem Bankenskandal? Der Schwerpunkt des grünen Wahlkampfes, das Thema Korruption und Filz, war gelaufen. Von nun an sollte es um Krieg und Sicherheit gehen, Themen, die den Grünen nur schaden können. „Sind Ihre Themen noch the state of the art?“, hat sie neulich einer nach den Angriffen auf die USA gefragt. „Wir müssen manches auf den Prüfstand stellen“, hat sie geantwortet. Die Grünen gerieten ins Schwimmen: Nein zum Primat des Militärischen, aber Ja zu Militärschlägen; Nein zum Überwachungsstaat, aber Ja zu mehr Überwachungsmaßnahmen. Profil ist anders.

Noch 1999 war Klotz eine erklärte Gegnerin des Nato-Krieges gegen Jugoslawien. Nun muss sich die Spitzenkandidatin hinter die grüne Befürwortung von Militärschlägen und gelegentlichen Verschärfungen in der inneren Sicherheit stellen. „Ich finde das vollkommen richtig“, sagte sie über das Vorgehen der USA. Das war, bevor der Krieg gegen Afghanistan begann. Als er ausbrach, versteckte sie ihre Meinung mit Unbehagen hinter Parteitagsbeschlüssen.

Vielleicht aber ist Sibyll Klotz ja tatsächlich die beste Repräsentantin des grünen Landesverbandes in Berlin. Eine, in deren Biografie sich die linke Kiezmentalität der grünen Stammwählerschaft gut vertreten sieht. Eine, der nach zehn Jahren Opposition jede Nähe zur Macht fehlt. Vielleicht ist es andererseits dieses hartnäckige Festhalten an der eigenen Geschichte, das Klotz zu einer Spitzenkandidatin der Mittelmäßigkeit macht. In der Sprache der Sibyll Klotz gibt es dafür einen Ausdruck. Er lautet: „Ich will mich nicht von der Wahrheit verabschieden.“

Im Jugendclub „Würfel“ wird zum Abschluss noch einmal eine bittere Wahrheit über die Grünen an die Wand projiziert: Auf die Frage, welche Partei sie wählen würden, antworten ganze 4,1 Prozent der befragten Schüler mit dem Adjektiv grün. „Im Osten habe ich nichts anderes erwartet“, sagt die Ost-Kandidatin später. Es klingt nicht enttäuscht, sondern nüchtern.