: 13 Uhr durch, die Sonne scheint blass
Lichtenberg ist so, wie man sich Ost-Berlin vorstellen mag, will man sich Ost-Berlin besonders trostlos vorstellen. Der Tag vergeht mit dem Gang zum Supermarkt, zur Imbissbude und zum Zigarettenverkäufer, sonst ist vieles egal. Nirgendwo in Berlin hat die PDS mehr Stimmen bekommen
von STEFAN KUZMANY
Robert und Diana stehen da und rauchen. Vom Himmel einige blasse Sonnenstrahlen, dreizehn Uhr durch, hinter ihnen der Kaiser’s-Supermarkt, links, rechts Plattenbauten, vor den beiden ein blauer Kinderwagen mit ihrem drei Monate alten Sohn Justin darin, der schläft. Robert steht da, er schaukelt Justins Wagen sanft mit der Rechten, in der Linken glimmt eine Zigarette. Pall Mall. Die gibt’s billiger beim Vietnamesen. Diana, 19 Jahre alt, blond, blass, steht da, raucht. Robert, 21 Jahre alt, gepiercte linke Augenbraue, hat sich beim Rasieren böse geschnitten, das Rasieren also erst mal bleiben gelassen, eine Tweety-Baseballkappe auf dem Kopf, schaukelt den Sohn, raucht, steht, schaukelt.
Wer frisch nach Berlin zieht, den zieht es nach Mitte, nach Prenzlauer Berg, nach Friedrichshain oder Kreuzberg. Nie jedoch hat man gehört von Menschen, die in einschlägigen Stadtmagazinen per Inserat günstige WG-Zimmer suchen mit freundlichen Mitbewohnern und Balkon in „L-Berg“. Lichtenberg, mit 2.636 Hektar Fläche einer der kleinen Bezirke der Hauptstadt, 270.000 Einwohner. Hier ist Ost-Berlin noch weitgehend so, wie Ost-Berlin gewesen sein mag, als die Mauer noch stand, und wie man sich Ost-Berlin vorstellen mag, will man sich Ost-Berlin besonders trostlos vorstellen. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Stadtteil stark zerstört, in den Siebziger- und Achtzigerjahren ließ die DDR-Regierung Großraumsiedlungen hochziehen, Plattenbauweise, besiedelt mit Parteigenossen.
Am Sonntag war Wahl in Berlin. Normalerweise, erzählt Robert, sagt ihm die Mama immer, wen er wählen soll, wenn Wahlen sind, und dann wählt Robert auch so, wie es die Mama zu ihm gesagt hat. Aber diesmal nicht. Robert war am Sonntag beim Hochseeangeln. Politik interessiert ihn nicht, und das Berliner Wahlergebnis ist ihm auch egal. Robert ist Maler von Beruf, und ab November ist Robert arbeitslos. Die vielen Überstunden wollte er nicht mehr mitmachen. Diskret nähert sich von der Seite ein Zigarettenschwarzhändler mutmaßlich vietnamesischer Herkunft, eine Stange Pall Mall in der Hand. Diana tauscht die Zigaretten wortlos gegen einen Geldschein. War sie wählen? Nein. Sie kümmert sich um Justin, sie hat die Wahl völlig vergessen. Ist doch auch völlig egal.
Im Laufschritt zieht eine Frau im roten Wintermantel ihren rollenden Einkaufswagen hinter sich her. Nein, sie habe nicht gewählt. Ihre ganze Familie habe nicht gewählt. Es komme sowieso nie was dabei heraus. Nein, es habe auch keinen Sinn, darüber zu reden, was sie mal wollte. Ist doch egal.
Ist überhaupt nicht egal. Lichtenberg, fast 200.000 Wahlberechtigte, am Sonntag 51,8 Prozent der Stimmen für die PDS. Die Hälfte der Ost-Berliner, schrieb Monika Maron auf den Berliner Seiten der FAZ, habe „ihren ehemaligen Wärter in die Schlüsselposition gewählt“. „Man schämt sich ja direkt, hier zu wohnen“, schimpft eine 64-Jährige, früher Wirtschaftskauffrau, die mit ihrem Enkel an der Imbissbude wartet. „Die haben doch nichts gelernt aus dem, was vor elf Jahren war.“ Ihre Tochter arbeitet bei Reichelt als Verkäuferin, da passt sie auf den Enkel auf. Die Gegend sei ja ganz schön, aber dieses Wahlergebnis, die Leute. Sie mag sich gar nicht mehr beruhigen, dann kommt die Bratwurst. Ein Mann mit Halbglatze und brauner Lederjacke, 44 Jahre alt, angestellt in der Industrie, freut sich über den Gewinn der PDS. Gerade für junge Leute biete die Partei doch Chancen, im sozialen Bereich. Gerne würde er eine rot-rote Koalition sehen, aber er glaubt nicht daran: „Da ist die Bundespolitik vor.“ Dabei könne man die PDS doch nicht immer nur verteufeln. Jeder Straffällige werde wieder eingliedert, aber die PDS-Wähler, die würden ausgegrenzt. Nein, bitte kein Foto. Der Chef soll das nicht sehen. Der Chef hat eine andere politische Meinung. Kommt der Chef etwa aus dem Westen? „Klar, der Chef kommt sowieso aus dem Westen.“ Er verschwindet im Supermarkt.
Heraus tritt eine elegante ältere Dame im Mantel, sieht die Reporter, kommt von selbst: „Ja, ich habe gewählt.“ Ungefragt. Sie glaubt, es komme eine Ampel-Koalition, aber lieber wäre auch ihr eine rot-rote: „Was maßt sich die FDP überhaupt an mit ihren paar Prozenten? Wie wollen wir vorwärts kommen, wenn ewig diese Spaltung da ist?“ Es müsse doch mal ein Schlussstrich gezogen werden. 73 Jahre sei sie alt, in ihrem Dorf in Sachsen habe sie die FDJ mitgegründet. Sie sei von Kommunisten erzogen worden, von lauter guten, warmherzigen Menschen: „Das waren unsere Ideale.“ Und jetzt? Ihr Sohn, Mathematiker an der Humboldt-Uni, nach der Wende flog er raus. Ihre Tochter, Journalistin beim DDR-Radio, nach der Wende aus ihrem Beruf vertrieben. Ihre Idole. Und jetzt? Alle Straßennamen umbenannt. „Die stochern doch auch noch in den Gräbern herum, dass die Kommunisten da rauskommen.“ Sekretärin war sie beim Berliner Verlag. Und jetzt? Da arbeiten nur noch Westdeutsche. Und sei es denn nicht ein Unding, dass die CDU die Käthe-Niederkirchner-Straße umbenannt habe? Aber die heißt doch noch so. Ach so.
Julia ist Ergotherapeutin, 23 Jahre alt, langes braunes Haar, SPD-Wählerin. Sie hofft auf eine Ampel-Koalition, denn die PDS mag sie nicht. Warum die hier so stark ist? Ist doch klar: „Wegen der vielen alten Genossen hier.“ Nein, sie sei da nie dabei gewesen. Und ihre Mama auch nicht.
Melanie, 19 Jahre alt, blond, blass, raucht. Sie arbeitet in einem Call-Center. An der Leine zerrt ihr Stafford-Terrier Medusa. Politik? Wahl? „Ist doch völlig egal.“ Vom Himmel einige blasse Sonnenstrahlen, 13 Uhr durch, links, rechts Plattenbauten, Medusa zerrt, Medusa will weiter.
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