Gottfroh über Nordallianz

■ Der Bremer Afghane Atiq über die Bundestagsabstimmung und Frieden

Der Übersetzer Atiq Yussufi floh vor 20 Jahren aus Afghanistan. In Deutschland wurde er als politischer Flüchtling anerkannt. Heute lebt er – nach Jahren im Iran, in den USA und in Frankreich – in Bremen.

taz: Herr Atiq, wenn Sie im Bundestag sitzen würden, wie hätten Sie am Freitag abgestimmt?

Atiq Yussufi: Die Entwicklung ist schneller, als man sich das vorstellen kann. Vor drei Wochen habe ich die Lage völlig falsch eingeschätzt. Damals hatte ich vor allem Sorge, dass es viele Tote unter der Zivilbevölkerung geben würde. Deshalb hätte ich mit „Nein“ gestimmt – gegen den Krieg. Am letzten Freitag hätte ich mit „Ja“ gestimmt. Wenn die Amerikaner nicht gewesen wären, hätte die Nordallianz die Städte nicht befreien können. Ich bin gottfroh, dass die Nordallianz nach Kabul einmarschiert ist – trotz der Zusage der USA an Pakistan, dass das nicht geschehen würde. Ich bin davon überzeugt, dass in weniger als zehn Jahren in Afghanistan eine ganz andere Atmosphäre herrschen wird.

Woher kommt Ihr Optimismus?

Ich habe die Gesichter der Leute gesehen. Die Afghanen versuchen, selbst die Macht in die Hand zu nehmen. Klar, wirtschaftliche Hilfe brauchen wir zu jeder Zeit. Aber die Afghanen wollen nicht mehr, dass die Nachbarn das Land regieren. Die Pakistani haben bis vor wenigen Tagen Afghanistan beherrscht, vermittelt über die Taliban und mit dem Geld aus Saudi-Arabien.

Der Geheimdienstminister von Pakistan war ein enger Vertrauter der Taliban ...

Deswegen musste er gehen, nachdem Pakistan die Zusage an die USA gemacht haben, den Krieg zu unterstützen. Auch in Pakistan gibt es unter dem Dach der Regierung große Differenzen. Aber seit einigen Tagen gibt es auch keine großen Demonstrationen der Taliban-Sympathisanten mehr in Pakistan.

In manchen Gegenden übernehmen Stammes-Führer jetzt die Macht, heißt es.

Das afghanische Volk braucht jetzt etwas zu Essen, Ruhe, vor allem aber Vertrauen. Es wird ein oder zwei Generationen dauern, bis das Vertrauen zwischen den verschiedenen Stämmen wieder wächst. Im Süden sind die Paschtunen, im Norden die Usbeken und Turkmenen, die Stammesführer haben in ihrer jeweiligen Region die Macht. Die prosowjetische Macht ist zerfallen, als sie sich mit den kooperierenden Stammesführern überworfen hat.

Aus europäischer Sicht wird gesagt: Afghanistan braucht neben wirtschaftlicher Hilfe auch Demokratie. Ist das in einer Gesellschaft von Stammes-Führern möglich und sinnvoll?

Es geht kein Weg daran vorbei. Man kann Afghanistan nur regieren, wenn alle Völker zusammen arbeiten, föderal wie in Deutschland. Es ist gut, dass die Nordallianz gesagt hat: Wer nicht nur Macht haben, sondern für das Land arbeiten will, soll nach Kabul kommen. Auch die Paschtunen.

Viele sagen, die Nordallianz kennen wir aus den 90er Jahren, als sie an der Macht war. Die sind nicht besser als die Taliban.

Ich hoffe, dass sie etwas gelernt haben und wissen, dass man mit Waffen allein das Volk nicht regieren kann. Das Volk hat nach 22 Jahren Bürgerkrieg und sowjetischer Besatzung genug.

Viele sagen, der König müsse zurückkommen. Sind sie Royalist?

War ich nie. Wenn er als ein Symbol für die Einheit kommt, dann könnte das aber sinnvoll sein. Er könnte eine positive Rolle spielen.

Treffen sich die 400 Afghanen, die in Bremen leben, um die Situation zu diskutieren?

Es gibt vielleicht Familien, die sich treffen ...

Stämme!

Ja, Stämme. Aber es gibt große Meinungsverschiedenheiten. Viele, die hier leben, sind noch pro- sowjetisch.

In Afghanistan sollen sich alle an einen Tisch setzen. Müsste das auch im Exil passieren?

Natürlich. Persönliche Interessen dürfen jetzt nicht mehr verhindern, dass alle Volksstämme zusammenkommen.

Haben Sie nahe Verwandte in Af-ghanistan?

Mein Bruder wohnt in Kabul. Aber ich weiß nicht, ob er noch lebt. Seit Anfang August gibt es an seinem Telefon „keinen Anschluss unter dieser Nummer“. Ich habe auch keine Post bekommen. .

Was macht Ihr Bruder beruflich?

Er war Torwart, der beste in Afghanistan. Er hat im Ministerium gearbeitet und als die Taliban an die Macht kamen, wurde er arbeitslos.

Wollen Sie Afghanistan wieder besuchen?

Das habe ich mir fest vorgenommen. Aber man kann jetzt noch nicht dahin reisen. Vielleicht werde ich auch ein Hilfsprojekt organisieren. Ich bin der Ansicht, dass die Afghanen jetzt auch etwas zum Vergnügen brauchen. Die Leute sollen sich auch einmal relaxen können. 22 Jahre Bürgerkrieg – das reicht irgendwann. Die Leute müssen auch mal zur Ruhe kommen.

Fragen: Klaus Wolschner