: Religion für gottlose Märker
Die großen Kirchen fürchten um die Glaubensfestigkeit der Brandenburger
BERLIN taz ■ Ironie der Geschichte: Marianne Birthler (Bündnis 90), nach der Wende erste Bildungsministerin Brandenburgs und heute Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde, war früher evangelische Katechetin. Steffen Reiche (SPD), ihr Nachfolger als Minister, ist ehemaliger Pfarrer. Und SPD-Landesvater Manfred Stolpe war zu DDR-Zeiten hochrangiger Funktionär der evangelischen Kirche. Dennoch sind diese drei Politiker für einen Streit verantwortlich, den die beiden großen Kirchen gestern vor dem Bundesverfassungsgericht ausfochten: Ist das brandenburgische Pflichtfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER) verfassungswidrig?
Die Frage hat die Karlsruher Richter fünf Jahre beschäftigt. Das deutet darauf hin, dass hier mehr verhandelt wurde als eine einfache Schulfrage. Wie beim Kruzifix-Urteil schwingt Grundsätzliches mit. Den Kirchen geht es darum, ihren Einfluss bei der Erziehung der Kinder in den neuen Ländern zu sichern, die von einer jahrzehntelangen Säkularisierung seit der Nazizeit geprägt sind, wie Brandenburgs Landesbischof Wolfgang Huber hervorhebt. Die LER-Erfinder Birthler, Reiche und Stolpe waren und sind genau deshalb für das neue Fach: Wie könne man in einem Bundesland, in dem nur etwa ein Viertel der Schüler einer Kirche angehört, Religion als (Wahl-)Pflichtfach installieren – was in den weniger entchristlichten West-Ländern üblich ist?
Zwar machte die evangelische Kirche seit 1992 noch bei einem LER-Modellversuch in 44 von 1.200 Schulen der Mark mit, votierte aber drei Jahre später für einen Wahlpflichtbereich: Darin sollte es neben Religionsunterricht auch ein Fach Lebensgestaltung/Ethik geben. Das 1996 verabschiedete Landesschulgesetz aber sah LER als Pflichtfach und eben kein ordentliches Lehrfach Religion vor.
Die Schüler können statt LER allerdings am Religionsunterricht teilnehmen. Der aber wird häufig nur in den Randstunden angeboten – also in der 6., 7., gar 8. Stunde. Außerdem muss man sich extra für Religion befreien lassen. Der Reli-Lehrer sei kaum mehr als ein „Gast an der Schule“, sagt Kirchenschulrat Wilfried Steinert. Und: Nur etwa die Hälfte der Kosten für den Religionsunterricht wird derzeit vom Land getragen.
Die Landesregierung argumentiert dagegen: Nur knapp 4 Prozent der Schülerinnen und Schüler Brandenburgs ließen sich für den Religionsunterricht befreien – offenbar herrsche kein Bedarf für diese Glaubensunterweisung. Die Kirchen rechnen jedoch anders. Aus Finanz- und Personalnot seien sie lediglich in der Lage, in etwa 60 Schulen Religionsunterricht parallel zu LER anzubieten, während es LER, ein Fach für die Klassen 7 bis 10, in 300 Schulen gebe. An diesen 60 Schulen aber liege die Quote der Reli-Teilnehmer im Schnitt bei 18 Prozent, in vielen Schulen bei über 50 Prozent, in manchen gar bei 80 Prozent. Und: Etwa 80 Prozent der Teilnehmer am Religionsunterricht sind konfessionell nicht gebunden, wie Kirchenmann Steinert betont.
Mit dem gestrigen Vergleichsvorschlag nun, der zumindest eine Aufwertung des Religionsunterrichts nahe legt, werden Kläger und Beklagte Bauchschmerzen haben: Die regierende SPD hatte Mitte Oktober die Landesregierung darauf festgenagelt, „keinem Vergleich zuzustimmen, der einen Wahlpflichtbereich Religion vorsieht“ – akzeptierte Stolpe aber den Vergleich, würde de facto sehr Ähnliches installiert. Die Kirchen würden auch dann nicht das ordentliche Lehrfach erhalten, das sie fordern. Ginge es nach den Brandenburgern, wäre die Entscheidung klar: Mehr als zwei Drittel der Märker plädieren für die Einführung von Religion als ordentliches Lehrfach. Nur ein Fünftel sind dafür, die jetzige Regelung beizubehalten.
PHILIPP GESSLER
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