: Die Macht des Unauffälligen
von HANNES KOCH
Es war ein langer Abend im Präsidentenpalast von Havanna. Der Chef der Revolution schwelgte in Anekdoten, und die Runde hatte bis morgens um 2 Uhr gewisse Mengen kubanischen Rums konsumiert, als Werner Müller sich entschloss, eine Rede zu halten. Allmählich wollte er zurück ins Hotel. „Wenn Sie jetzt ihre Grundüberzeugung änderten, würden sie unglücklich sterben“, gab der Bundeswirtschaftsminister dem neben ihm sitzenden Fidel Castro mit auf den Weg. Der deutsche Botschafter versuchte, in seinem Sessel zu versinken. Schließlich hatte der Gast aus Berlin mal eben klargestellt, dass sich bis zu Castros Tod in Kuba wenig ändern wird – danach aber in kurzer Zeit sehr viel.
In seinem Berliner Büro lächelt Werner Müller schelmisch über seinen kleinen Coup. Erstaunt habe der Máximo Líder – 20 Jahre älter als der 55-jährige Deutsche – angesichts der unorthodoxen Äußerung dreingeblickt. Der Exmanager im Amt des Wirtschaftsministers gefällt sich darin, kontrolliert aus der Rolle zu fallen. Mitunter gibt er sich undiplomatisch direkt und erweckt bewusst den Eindruck, dass er das ganze politische Showbizz nicht ernst nimmt.
Keine großen Entwürfe
Für Müller gibt es ein Vor, Neben und Nach der Politik. Seine Promotion schrieb er zum Thema „Zur Analyse numerischer Eigenschaften nichtnumerischer Massenphänomene wie zum Beispiel Sprache“. Später lehrte er Linguistik an den Universitäten Mannheim und Regensburg. Nach jahrelanger Führungsfunktion beim Energiekonzern Veba muss er heute kein Geld mehr verdienen. Das ermöglicht eine gewisse Unabhängigkeit, auch von der Droge Macht.
Des Wirtschaftsministers Distanz zur Politikerrolle führt aber auch dazu, dass ihm andere, wichtige Eigenschaften eines Politikers abgehen. Als bei einer Veranstaltung in Berlin der Managerkreis der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung große Gedanken zu Papier bringt, wie „Deutschland in den nächsten 30 Jahren“ aussehen wird, ist die Reihe an Müller. Als Podiumsteilnehmer hat er zuvor lange Zeit schweigsam die Dachkonstruktion im Versammlungssaal studiert. Nun animiert Moderator und Zeit-Journalist Robert Leicht ausgerechnet ihn zu einem „wirkungsvollen Schlusswort“. Anstatt einen Entwurf zukunftsweisender Wirtschaftspolitik zu präsentieren, weicht Müller auf ein anderes Feld aus: Energie.
Bei seinem Lieblingsthema Energie fühlt er sich wohl, und so dürfte es ihm auch ganz recht sein, dass er dieser Tage in Verbindung mit der umstrittenen Fusion zwischen dem Energiekonzern Eon und dem Gas-Oligopol Ruhrgas in den Mittelpunkt rückt. Und die drängenden Fragen nach dem Thema Arbeitslosigkeit eher an den Kanzler als an ihn gestellt werden.
Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel spricht aus, was viele auch in den Reihen der Regierungsparteien über den parteilosen Minister denken: „Er setzt keine Akzente.“ Müller eilt nicht der Ruf voraus, Visionär zu sein. Während das deutsche Wirtschaftswachstum seit vergangenem Sommer in der Stagnation verebbte, beschwor der oberste Sachwalter der Ökonomie immer wieder den Aufschwung, der bald schon kommen werde. Im Gedächtnis der politischen Öffentlichkeit herrscht jedoch Fehlanzeige, wenn es um Regierungsinitiativen geht, um die Konjunkturflaute zu beheben. Stattdessen weiß der Minister genau, was er nicht will: kein Vorziehen der Steuererleichterungen, die erst für Anfang 2003 geplant sind. „Das nützt nichts“, sagt Müller. Das zusätzliche Geld würden die Verbraucher nicht ausgeben, sondern sparen.
So steht für die politischen Kommentatoren das Bild weitgehend fest. Im Vergleich mit den großen Wirtschaftsministern der alten Bundesrepublik kommt der Neuling schlecht weg. Projekte wie Ludwig Erhards Versuch, die Macht der Konzerne durch das Kartellrecht einzuschränken, oder Karl Schillers Bestreben, den Konjunkturverlauf mittels finanzpolitischer Globalsteuerung durch den Staat zu beeinflussen, sucht man auf Müllers Agenda vergeblich.
Trotzdem ist Müller mehr als ein saft- und kraftloser Hausherr des Wirtschaftsministeriums. Nach langen Jahren gegenseitiger Blockade der wirtschaftspolitischen Lobbyorganisationen schnitt er einige alte Zöpfe ab. Etwa das Rabattgesetz von 1933. In den Geschäften darf nun um den Preis der Waren gefeilscht werden – praktizierter Liberalismus. In jüngster Zeit gehört der Exmanager trotz seiner grundsätzlichen Marktnähe zu den wenigen, die die Agonie der Regierung Schröder in der Arbeitsmarktpolitik überwinden wollen. Müller plädierte als einer der Ersten für den Kombilohn: Der Staat solle Leuten mit niedrigen Löhnen teils die Sozialleistungen finanzieren, damit schlecht bezahlte Jobs attraktiv werden.
Traumberuf? Nie!
Freilich ist Müller nicht gut darin, seine Arbeit als politisches Programm zu vermarkten. Im Grunde will er das gar nicht. Bloß nicht für einen Politiker gehalten werden: „Wirtschaftsminister war nie mein Traumberuf“, sagt er. In seinem Büro zaubert die Hi-Fi-Anlage die Klänge einer Bachsonate, als stünde die Ledergarnitur neben dem Flügel. Der Minister erklärt: „Ich will mich nicht profilieren.“
Dass ihm das oft gelingt, steht außer Frage. Im Frühjahr 2000 ergab eine Umfrage, dass zwei Drittel der Befragten nicht einmal den Namen ihres Wirtschaftsministers kannten. Auf seine größten Erfolge angesprochen, nennt er die staatlich garantierten Hermesbürgschaften, die jetzt wieder Geschäfte deutscher Unternehmen mit Russland absichern. Lange Zeit gab es sie nicht, weil die Lage im Osten als zu unsicher galt. So etwas ist für Müller ein „Ergebnis“, über das zu sprechen sich lohnt – wobei er sich kaum ein sperrigeres Thema aussuchen könnte.
Müllers Stärken liegen im Strippenziehen im Hintergrund. Das darf ruhig Jahrzehnte dauern. Seit 1991 energiepolitischer Berater des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder, rief er die Konsensrunden ins Leben, als deren Ergebnis die rot-grüne Regierung schließlich mit den Vorständen des deutschen Stromkartells das Auslaufen der AKWs bis etwa 2025 vereinbarte. Als Anhänger der Atomkraft und gleichzeitiger Realist wollte er zweierlei erreichen: komfortable Renditen für die Konzerne und den Frieden mit der atomkritischen Bevölkerung. Diese Rechnung allerdings geht – wie der fortdauernde Widerstand zeigt – nicht auf.
Nicht nur in der Energiepolitik, seiner Herzensangelegenheit, spielt Müller den Stichwortgeber für Kanzler Schröder. Nicht nur die Green-Card-Initiative zur Anwerbung ausländischer Softwarespezialisten, die die veraltete Einwanderungspolitik auffrischte, wird zu guten Teilen ihm zugeschrieben.
Dabei fühlt Müller sich meist wohl, wenn sein Einfluss nicht thematisiert wird. Doch so einer braucht jemanden, der vorne steht, der ihm seinen Spielraum garantiert und die Hunde vom Leibe hält. Wenn Müller das Dienen als seine Lieblingstugend beschreibt, kennzeichnet dies auch sein Verhältnis zum Regierungschef – es umfasst Vertrauen des Oberen und Loyalität des Unteren. Der Minister ist des Kanzlers Lehensmann – und lässt es als solcher gern zu, dass sich der König die Federn an den Hut steckt.
Müller verwendet größere Teile seiner Energie darauf, sich unsichtbar zu machen. Dann wieder tendiert er völlig überraschend ins Großartige: Das Gesetz über die digitale Unterschrift „hat zwar kaum jemand beachtet, aber damit könnte man in die Geschichte eingehen“. Es ist schon etwas, dass die in der Datenkommunikation der New Economy notwendige elektronische Signatur der eigenhändigen Unterschrift unter einem traditionellen Dokument gleichgestellt wird – aber damit in die Geschichte eingehen?
Müllers Credo, „Ich bin gerne in der zweiten Reihe, dort aber der Erste“, kann nur funktionieren, wenn er wenigstens ab und zu ganz eigennützig auf sich aufmerksam macht. Mit einem Selbstlob.
Hilfe für Kollege Trittin
Oder mit seiner Verteidigungsrede für den Kollegen Jürgen Trittin. Frühjahr 2001: Der Umweltminister sagt im Radio, CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer habe „die Mentalität eines Skinheads“. Trittin gerät unter Druck, nur Müller unterstützt ihn mit einer viel beachteten Rede im Bundestag. Aber warum? Taktisch betrachtet, war ihm ein schwacher Trittin sicher lieber als ein starker Nachfolger. Doch offenbar war es die Verlogenheit des CDU-Mannes, die den Minister erboste: Meyer verlangte eine Abbitte des Grünen, die dieser auch leistete, war aber nicht bereit, sich für das Rentenbetrugs-Plakat der CDU zu entschuldigen, das Schröder als Verbrecher zeigte. Das eine tun, das andere sagen – das kann Werner Müller nicht ausstehen. Er will, dass eine politische Restvernunft bewahrt bleibt.
Das Bestreben, die Welt auf rationale Art zu gestalten, schützt den Minister freilich nicht davor, ein prekäres Verhältnis zu den großen Unternehmen im Lande zu pflegen. Das ist seine offene Flanke. Geraten alte Privilegien und neuer Wettbewerb in Konflikt, setzt sich Mister Old Economy oft genug für Erstere ein. Dem Oligopol der großen Stromkonzerne gestattet er, neue Energieversorger mit abenteuerlichen Gebühren für die Benutzung der Elekrizitätsleitungen aus dem Felde zu schlagen. Er setzte sich gegen das skeptische Kartellamt dafür ein, dass die Ölkonzerne Shell und BP durch Fusionen noch mehr Tankstellen übernehmen dürfen. Und dem Monopol Deutsche Post AG erlaubte er, weiterhin hohe 0,56 Euro Briefporto zu kassieren, was jenem Rekordgewinne einbringt. Der Minister selbst ist um eine Erklärung nicht verlegen. Ohne ein paar weltweit tonangebende Unternehmen könne Deutschland als führende Wirtschaftsnation nicht bestehen. So päppelt er die heimischen Konzerne, auf dass deutsche Global Player entstehen.
Was Müller tut, fällt oft nicht weiter auf. Trotzdem macht er Ordnungspolitik – mit geringerer Reichweite als Erhard zwar, aber wirkungsvoll. „Mein größter persönlicher Erfolg ist, dass ich noch im Amt bin“, sagt er über sich selbst. Da hat er schon wieder tiefgestapelt.
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