: Türken fordern Vorschule für alle
Türkische Verbände ziehen Konsequenzen aus der Pisa-Studie. Nur mit Vorschulpflicht könnten mangelnde Sprachkenntnisse nichtdeutscher Kids behoben werden. Bisher habe die Bildungspolitik „noch immer nicht auf 40 Jahre Migration reagiert“
von SABINE AM ORDE
Drei Monate nach der Veröffentlichung der Schülerleistungsstudie Pisa haben die türkischen Dachverbände eine klare Forderung: Sie verlangen die bundesweite Einführung eines verpflichtenden, kostenlosen Vorschuljahrs für alle Kinder. Nur so könnten die mangelnden Deutschkenntnisse nichtdeutscher Kids behoben werden, sagte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Hakki Keskin.
Die „defizitäre Lage“ der Migrantenkinder habe das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der Pisa-Studie maßgeblich beeinflusst, so Keskin. Pisa habe aber auch gezeigt, dass das deutsche Bildungssystem sozial benachteiligte Kinder nicht ausreichend unterstützt. „Zu dieser Gruppe zählen zumeist auch türkische Kinder.“ Nach Untersuchungen in Hamburg sprechen 40 Prozent der türkischen Kinder bei der Einschulung nicht ausreichend Deutsch. Sprachtests im Berliner Bezirk Wedding bescheinigen dies gar drei Viertel der nichtdeutschen Erstklässler. Diese ungleichen Startchancen würden, so der TGD-Vorsitzende, die Kinder durch die gesamte Schullaufbahn begleiten. Im Vergleich zu ihren deutschen Altersgenossen verlassen derzeit doppelt so viele türkische Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Nur ein Drittel der türkischen Schüler macht Abitur.
„Auch nach 40 Jahren Migration hat sich das deutsche Bildungssystem nicht darauf eingestellt, dass hier nichtdeutsche Kinder zur Schule gehen“, kritisierte Ertekin Özcan, der Vorsitzende der Türkischen Elternvereine in Deutschland. Bundesweit gibt es rund 400.000 schulpflichtige türkische Kinder.
Ansetzen müsse man bei den Kindertagesstätten, fordern die Dachverbände. Weil es aber bei den türkischen Eltern noch immer große Vorbehalte gegen Kitas gebe, sei ein verpflichtendes Vorschuljahr vonnöten. Und damit die nichtdeutschen Kinder nicht unter sich sind, müsse diese Pflicht für alle Kinder gelten. Zudem wollen die türkischen Vereine vor allem nichtdeutsche Eltern dafür gewinnen, ihren Nachwuchs spätestens ab dem dritten Lebensjahr in eine Kita zu schicken. Auch hier könne man über eine Kitapflicht nachdenken, heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Verbände.
Gleichzeitig müsse „das Personal für die Kitas besser geschult werden und in der Lage sein, den Kinder Deutsch als Zweitsprachezu vermitteln“, forderte Özcan. Außerdem sollten sozial benachteiligte Familien von Gebühren und Beiträgen befreit werden. Untersuchungen zufolge seien derzeit vier Fünftel aller türkischen Eltern wegen eigener ungenügender Deutschkenntnisse nicht in der Lage, an einem Elternabend teilzunehmen. Ein Großteil könne zudem den Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen. Auch für Eltern müssten also verstärkt Deutschkurse angeboten werden.
Die Dachverbände forderten außerdem, die türkische Sprache „als Ressource“ anzusehen und ihr einen höheren Stellenwert beizumessen. Die zweisprachige Erziehung müsse gestärkt und Türkisch dabei als versetzungsrelevantes Fach an allen Schulen anerkannt werden.
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