: Gedächtnis in der Defensive
Habbo Knoch betrachtet subtil und klar die Wandlungen der visuellen Erinnerung an den Holocaust. Sein Werk ist ein gewichtiger Beitrag zu einer populären Kulturgeschichte der Fünfzigerjahre
von PAUL NOLTE
Wie können wir die Verbrechen des Nationalsozialismus visuell beschreiben und vergegenwärtigen? Auf diese Frage liefen zentrale Debatten über Geschichte und Erinnerung des „Dritten Reiches“ in den vergangenen Jahren immer wieder hinaus. Das Bedürfnis nach einer Visualisierung des Holocaust, nach seiner Darstellung mit außersprachlichen Mitteln, ist gewachsen, da die Sprache angesichts der Dimensionen der Tat an ihre Grenzen zu stoßen schien. Doch andererseits sind auch die Grenzen der visuellen Darstellung des Holocaust deutlich hervorgetreten. Die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht setzte auf die Wirkung des Bildes, vollzog aber in ihrer neu erarbeiteten Fassung einen Schwenk zum schriftlichen Dokument. Mahnmale als ästhetische Repräsentationen der Tat sollen durch Dokumentationszentren und Archive ergänzt werden. Wissenschaftler wie Daniel Goldhagen erprobten in ihren Texten Stilmittel, die in den Köpfen der LeserInnen anschauliche Bilder des Schreckens erzeugten – und mussten sich daraufhin den Vorwurf einer voyeuristischen, ja obszönen Darstellung gefallen lassen. Und dennoch wird die Erinnerung an Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Holocaust in erheblichem Umfang durch Bilder getragen, durch Aufnahmen wie das lächelnde Antlitz der Anne Frank, das längst zur Ikone geronnen ist.
Die visuelle Repräsentation der Tat ist selbstverständlich kein Produkt der Neunzigerjahre, sondern hat sich bereits in der Nachkriegszeit der frühen Bundesrepublik und DDR zu ersten einflussreichen Mustern verdichtet. Dies ist das Thema eines weit ausgreifenden Buches von Habbo Knoch, das auf über tausend Seiten eine subtile Bildgeschichte des Holocaust in den deutschen Nachkriegsgesellschaften entwirft. Aber es handelt sich nicht um ein Kompendium der Bilder, sondern um eine Untersuchung der Verwendungsformen und Erinnerungsfunktionen von Fotografien und anderen medialen Dokumenten: Damit leistet es einen gewichtigen Beitrag zur populären Kulturgeschichte besonders der Bundesrepublik in den Fünfzigerjahren. „Gewichtig“ leider auch im äußerlichen Sinne: Der Umfang des Buches hätte den Rezensenten fast besiegt, aber wenn man sich einmal in das Ungetüm hineingewagt hat, dann fällt die Lektüre leicht, ist spannend und erhellend. Dazu trägt nicht wenig die eindrucksvolle sprachliche Souveränität des Autors bei, die nüchtern und behutsam zugleich auch heikle Probleme der Darstellung von Gewalt und äußerster Entwürdigung meistert.
Die Wandlungen der bildlich vermittelten Erinnerung an den Holocaust verfolgt Knoch in vier Phasen, denen die vier, teils mehrere hundert Seiten langen Hauptteile des Buches entsprechen. Schon das Entsetzen über die ersten Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern beruhte auf einer langen Vorgeschichte der bildhaften Darstellung von Gewalt und zerstörten Körpern, die bis zu Künstlern wie Goya zurückreicht und im Ersten Weltkrieg eine neue Dimension erreichte. Die „Sagbarkeitsregeln“ – einer der Lieblings- und Zentralbegriffe des Autors – mussten jedoch immer neu gesellschaftlich und kulturell ausgehandelt werden. Daraus resultierte schon in der ersten Phase, der unmittelbaren Nachkriegszeit, ein Spannungsverhältnis: Bilder standen genügend zur Verfügung, sie verhinderten aber nicht, was Knoch die „visuelle Amnesie der frühen Jahre“ nennt. In den frühen Fünfzigerjahren, der zweiten Phase, verstärkte sich dieser Rückzug aus der visuellen Vergegenwärtigung des Krieges und der Verbrechen noch weiter. Die viel gehörte These eines pauschalen „Beschweigens“ in den Fünfzigerjahren findet man hier nicht bestätigt; eher war es so, dass „Ersatzsprachen“ der Abmilderung, Verhüllung und Rechtfertigung an die Stelle eines offensiven Erinnerns traten.
Seit der Mitte der Fünfzigerjahre jedoch waren „Aufbrüche“ zu verzeichnen: Die Fotografien der NS-Verbrechen kehrten in die westdeutsche Öffentlichkeit zurück – in populären Illustrierten, zunehmend aber auch in Schulbüchern und in wissenschaftlichen Büchern. Immer wieder wird dabei übrigens deutlich, dass Bilder von Einzel- oder Massenerschießungen osteuropäischer Juden damals bereits zum vertrauten visuellen Inventar gehörten, während die Geschichtswissenschaft diese Dimension des Holocaust außerhalb der fabrikmäßig konzentrierten Vernichtung erst viele Jahrzehnte später wieder neu erschlossen hat. Gründe dafür findet man in den Entwicklungen der vierten Phase um 1960, als sich in mehrfacher Hinsicht eine „visuelle Neuordnung des Nationalsozialismus“ vollzog. Im Zeichen einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit entwickelte sich ein medialer Aufbruch. Erste Ausstellungen dokumentierten die Judenverfolgung und -vernichtung; das Fernsehen begann eine Rolle zu spielen. Zugleich engte sich das „Narrativ“ des Holocaust jedoch ein und fixierte sich in bestimmten Täterbildern und Verbrechensikonen. Erst jetzt wurden die „Schreibtischtäter“ wie Eichmann und Höß zu Prototypen des Massenmörders. Im engen Zusammenhang damit konzentrierte sich die Erinnerung des Holocaust viel mehr als zuvor auf die Lager. Die Musealisierung von Auschwitz begann, und überhaupt wurde Auschwitz in dieser Phase zum Symbol, auch zur bildlichen Ikone, der NS-Verbrechen im Ganzen. Dieses neue Muster blieb mindestens in den Sechzigerjahren weithin bestimmend.
Je mehr man in das Buch eindringt, desto unpassender muss man eigentlich seinen Titel finden. Zwar kehrt es zu fotografischen Repräsentationen des Holocaust immer wieder zurück, doch geht es darüber zugleich weit hinaus. Die Darstellung des Holocaust war zumal in den Fünfzigerjahren mit der allgemeinen Kriegsverarbeitung eng verknüpft, und so weitet sich die Studie an vielen Stellen zu einer umfassenden Rezeptionsgeschichte von Krieg und Gewalt in der frühen Bundesrepublik. Vor allem jedoch reicht die Quellenbasis über Fotografien hinaus. Knoch analysiert die sprachliche Darstellung und Erinnerung des Holocaust ebenso wie die bildliche und hat dazu eine schier unglaubliche Menge und Vielfalt populärer Medien durchforstet: Landserhefte und Schulbücher, historische Fachliteratur und populäre Illustrierte wie Stern, Quick und Revue, triviale ebenso wie gehobene Belletristik, all das wird auf überzeugende Weise in die Untersuchung einbezogen. So demonstriert er, welche Vorzüge eine moderne Mediengeschichtsschreibung haben kann, wenn man sie mit Erinnerungs- und populärer Kulturgeschichte verknüpft. Man kann Knochs Buch deshalb als eine substanzielle Erweiterung der viel gerühmten Studie Norbert Freis über die „Vergangenheitspolitik“ der Bundesrepublik in den Fünfzigerjahren lesen: Während Frei hauptsächlich die politisch-legislative Ebene behandelte, gibt Knoch dieser Vergangenheitspolitik ihr breites Fundament im kulturellen, insbesondere massenmedialen Diskurs.
Wie und warum die Rhythmen der massenmedialen Erinnerung im Einklang mit der allgemeinen Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik – oder auch der DDR, die punktuell einbezogen wird – schwangen, das gehört zu den Fragen, die das Buch am Ende unbeantwortet lässt. Gelegentlich versucht Knoch eine gedankliche Brücke zum beginnenden Wirtschaftswunder oder zu den Anfängen der Konsumgesellschaft zu schlagen, aber das überzeugt oft nicht recht. Vielleicht gibt es ja auch eine gewisse sozialpsychologische Eigenlogik der Zyklen von Erinnerung und Amnesie, jedenfalls eine Logik, die nicht unmittelbar an politische oder sozialökonomische Zäsuren gebunden ist? Und natürlich wünschte man sich das Thema über die frühen Sechzigerjahre hinaus weiterbehandelt. Das Fernsehen erschließt erst seitdem neue Formen der visuellen Repräsentation des Holocaust, und in den Achtzigerjahren beginnen Versuche seiner künstlerischen Bearbeitung. Das ist ein Thema, dem sich James E. Young in seiner gerade erschienenen Studie über die „Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur“ widmet, von Art Spiegelmans „Maus“-Comics bis zu den Denkmals- und Museumsprojekten in Berlin. Mit der Transformation der NS-Verbrechen in Kunst ist jedenfalls gegenüber der Fotografie, so viel ästhetisierende Elemente diese auch enthalten mag, noch einmal eine grundsätzliche Schwelle überschritten. Möglicherweise würden aus einer solchen längerfristigen Perspektive die späten Vierziger- und Fünfzigerjahre mehr als eine Einheit erscheinen, als Knochs differenzierter Nahblick es erscheinen lässt. Die Verdienste dieser beeindruckenden, unbedingt empfehlenswerten Studie schmälert das nicht.
Habbo Knoch: „Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur“, 1.120 Seiten, Hamburger Edition, Hamburg 2001, 50 €
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