: „Menschenrechte gelten immer“
Amnesty-Generalsekretärin Barbara Lochbihler kritisiert Israels Militäraktionen in Palästina und fordert eine internationale Beobachterkommission
Interview BERND PICKERT
taz: Die Berichte über schwere Übergriffe der israelischen Armee häufen sich. Über welche Informationen verfügt amnesty international?
Barbara Lochbihler: Wir können bestätigen, dass israelische Behörden und Sicherheitskräfte massiv Menschenrechte verletzen. Es kommt zu übermäßiger Gewaltanwendung, zu sehr vielen illegalen Hinrichtungen. Wir beobachten in großem Maße Zerstörungen palästinensischer Häuser, auch viele Kinder sind obdachlos geworden. Wir gehen von über 100 willkürlichen Verhaftungen an Palästinensern aus. Meist ist nicht bekannt, wohin die Verhafteten gebracht wurden. Sehr wahrscheinlich kommt es zu Folter und Misshandlungen. Medizinischem Personal wird der Zugang zu Verletzten verweigert. Wir wissen von mindestens einem Fall, wo eine Person deswegen verblutet ist. Auch die Büros einzelner Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen sind zerstört worden.
Sind das Übergriffe einzelner Soldaten?
Das schließen wir aus. Die Soldaten müssten schon sehr undiszipliniert sein, damit sich das so erklären ließe. Wahrscheinlicher ist, dass dieses Vorgehen angeordnet oder zumindest wissentlich toleriert ist.
Hat denn ai mit ihrer Kritik bei der israelischen Regierung Gehör gefunden?
Zurzeit nicht. Wir betreiben Lobbyarbeit inzwischen vor allem bei internationalen Organisationen, besonders bei den Vereinten Nationen und der Europäischen Union. In einem offenen Brief an die EU vom 9. April fordern wir mehr Druck. Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel enthält zum Beispiel eine Menschenrechtsklausel, auf die man Bezug nehmen könnte. Und wir fordern von der US-Regierung mehr Konsequenz – etwa einen Stopp der Lieferung aller Waffen an Israel, die zu Menschenrechtsverletzungen verwandt werden können. Die US-Regierung als größter Geber von Militärhilfe an Israel ist da der richtige Adressat.
Ariel Scharon spricht von einem legitimen Kampf Israels um sein Überleben. Hat er nicht Recht und gelten da nicht andere Regeln?
Die Menschenrechte gelten immer und gerade in Kriegs- und Krisenzeiten. Wenn man Frieden schaffen will, dann geht das auch nur durch die Einhaltung von Regeln und nicht, indem man noch mehr Hass und Unversöhnlichkeit schafft. Das gilt auch für die bewaffneten Gruppen auf palästinensischer Seite, die israelische Zivilisten umbringen.
Kofi Annan hat gesagt, wir könnten noch sehr erschrecken, wenn wir irgendwann das ganze Ausmaß dessen erfahren, was derzeit im Westjordanland geschieht.
Deshalb fordern wir, dass eine internationale Beobachterkommission jetzt Zutritt erhält. Wir haben das in der UN-Menschenrechtskommission vorgebracht, die derzeit in Genf tagt, und wir sind entsetzt, dass nicht einmal einer Besuchskommission zugestimmt wurde. UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson hat das vor Tagen schon gefordert.
Halten Sie es für denkbar, dass israelische Menschenrechtsverletzungen irgendwann einmal in Israel selbst gerichtlich aufgearbeitet werden?
Wenn es zu einem friedlichen Leben in Palästina und Israel kommen soll, dann müssen die Menschenrechtsverbrechen aufgedeckt werden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Also irgendwann ein Prozess gegen Ariel Scharon in Israel?
Wenn das die rechtliche Lage in Israel hergibt.
Israel beruft sich auf die Erfahrung des Holocaust und die daraus abgeleitete Notwendigkeit, die Existenz des Staates Israel auch militärisch abzusichern, koste es, was es wolle.
Nach den UN-Resolutionen hat Israel selbstverständlich das Existenzrecht. Die Staaten, die das noch in Abrede stellen, müssen so eingebunden werden, dass auch sie davon abrücken. Aber auch die Palästinenser haben Anspruch auf einen eigenen Staat. Als Menschenrechtsaktivistin und Deutsche muss ich mir meiner historischen Verantwortung bewusst sein, aber ich kann niemals Menschenrechtsverletzungen relativieren, je nachdem ob Täter oder Opfer Juden oder Palästinenser sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen