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„Unser Held heißt Selcük“

■ Fremdenfeindlicher Hintergrund des Brandanschlags in Blumenthal nicht ausgeschlossen. Den Opfern sieht man den Schock noch an. Vertreter der türkischen Botschaft waren vor Ort

„Unser Held heißt Selcük Sevinc.“ Die BewohnerInnen der Blumenthaler Georg-Albrecht- Straße sind sich einig: Der 27-jährige Selcük Sevinc hat Samstag früh mit seiner Geistesgegenwart sechs Familien vor dem Feuertod gerettet.

Gegen vier Uhr früh hatten sich zuvor dramatische Szenen in den zwei dreistöckigen Altbauten abgespielt. Die Bewohner der einander gegenüberliegenden Häuser, sechs Familien mit Kindern, waren in ihren Wohnungen gefangen: Unten in den Holz-Treppenhäusern hatten Unbekannte Feuer gelegt. Der Staatsschutz ermittelt. Ein fremdenfeindlicher Hintergrund der Brandanschläge wird nicht ausgeschlossen. Vertreter des türkischen Konsulats waren da. Von deutschen Politikern keine Spur.

In der schmalen Straße wohnen ausschließlich Einwanderer, die meisten von ihnen aus der Türkei. Manche seit 30 Jahren. Viele hatten Arbeit in der nahen Wollkämmerei. Der gehörten die Blocks auch, bis sie vor rund drei Jahren an einen privaten Besitzer gingen. Seither gibt es Ärger – um Sanierung, erhöhte Mietkosten und und. Böse Zungen im Ortsteil brachten das anfangs mit dem Feuer in Verbindung – nicht aber die Betroffenen. Ja, Ärger habe es gegeben. „Anwälte schreiben Briefe.“ Aber kaum war das Feuer gelöscht, habe der Vermieter sich sehr um die Geschädigten bemüht und Hilfe angeboten. Die jungen Leute im Ortsteil und im Haus denken eher an Neonazis. Wobei alle vorsichtig betonen: „Genaues wissen wir nicht.“ Aber auch Feuerwehrmänner berichten, dass Rechte am 20. April an der Weser Hitlers Geburtstag gefeiert haben. Unweit des Denkmals für KZ-Opfer. Und unweit der Brandorte. Auch Selcük Sevinc hat das gehört.

Er war am Samstag erst früh morgens nach Hause gekommen und wollte gerade den Fernseher ausmachen, als er Geräusche hörte und gegenüber Flammen sah. Im Pyjama sprang er aus dem Fenster auf die Straße, schrie Warnungen, nahm ein erstes Kind aus dem Erdgeschossfenster gegenüber entgegen – und merkte erst dann, dass es auch im eigenen Flur lodert, auf dem Absatz zum ersten Stock. Das Feuer war offenbar später gelegt worden. Niemand hat etwas Verdächtiges bemerkt – auch keinen weißen Personenwagen, nach dem die Polizei fragt, weil ein Tankstellenwart ihn mit verkauften Benzinkanistern in Verbindung brachte. Möglicherweise der Sprit, der die Flammen beschleunigte, die in dem einen Haus schon an der Wohnungs-tür im zweiten Stock leckten. Ein Mann überstand den Sprung von dort leicht verletzt. Frauen und Kinder rettete die Feuerwehr wenig später mit Leitern aus dem zweiten und dritten Stock. „Die wollten auch springen“, sagt Sevinc. Aber er rief: „Die großen Flammen sind aus. Wartet, bis die Feuerwehr kommt.“ Sevinc, der bei den Stahlwerken arbeitet, hatte die Feuerlöscher in beiden Fluren leer gesprüht – und dann die Rettung der Nachbarn koordiniert.

Den Frauen steigen beim Gedanken an die Angst, den Qualm und die schmerzende Lunge jetzt noch Tränen in die Augen. Den Männern versteinern die Gesichter. Die Kinder werden still. In der schmalen Straße sind die Familien näher zusammengerückt. Alle haben verstanden: „Da wollte uns niemand nur erschrecken.“ Dazu hätte ein Brandsatz gegen die Hauswand gereicht. Nein, in diesem kurzen Straßenstück, wo nachts kein Durchgangsverkehr ist, in diesen alten Häusern mit ihren Holzaufgänge, haben alle Glück gehabt. Auch wenn das eine Haus nun unbewohnbar ist. Auch wenn die meis-ten der älteren oder arbeitslos gewordenen Mieter ihre Hausratsversicherung aus Spargründen gekündigt haben – und auch wenn niemand weiß, woher nun Ersatz für Verlorenes kommt. Eva Rhode

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