Helfer und Hilflose


von DOMINIC JOHNSON

Als sie ins Flüchtlingslager Blama in Sierra Leone kam, wähnte sich Finda James in Sicherheit. Die 14-Jährige war aus Sierra Leones Kriegsgebiet geflohen, nachdem Rebellen ihre Mutter getötet hatten. Im Lager bot ihr ein einheimischer Mitarbeiter des US-Hilfswerks „International Rescue Committee“ Geld und Seife an. Im Gegenzug verlangte er Sex. Neun Monate später hatte Finda zwar weder Geld noch Seife, dafür aber einen Sohn.

Der oberste Flüchtlingshelfer der Welt scheint Schicksale wie das von Finda James normal zu finden. „In scheinbar hoffnungslosen Umgebungen sind die Armen und Enteigneten oft zu verzweifelten Maßnahmen gezwungen, um zu überleben“, sagte Ruud Lubbers, Leiter des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR, am Mittwoch in New York vor dem UN-Weltkindergipfel.

Mit keinem Wort erwähnte Lubbers, dass Helfer eigentlich ohne sexuelle Gegenleistung helfen sollten. Eigentlich ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber seit Ende Februar durch eine gemeinsame Untersuchung von UNHCR und der britischen Hilfsorganisation „Save The Children“ bekannt wurde, in welchem Ausmaß minderjährige Flüchtlinge in Westafrika Opfer sexuellen Missbrauchs werden, ist in der Welt der Nothilfe nichts mehr selbstverständlich.

„Der Tausch von Sex gegen Geld oder Geschenke scheint weit verbreitet zu sein“, heißt es in dem Bericht, der Untersuchungsergebnisse aus Flüchtlingslagern in Guinea, Liberia und Sierra Leone wiedergibt. Betroffen seien meistens Mädchen in der Pubertät, vor allem solche ohne Eltern. „Die Ausbeuter von Kindern sind oft Männer in Positionen relativer Macht, die entweder den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen kontrollieren oder Reichtum und/oder Einkommen haben“, heißt es. So würden Mitarbeiter von Hilfswerken einem Kind weismachen, sein Name stünde nicht auf der Liste der Bezugsberechtigten, aber man könne da ja was machen.

Viele Rationen, die einen Monat reichen sollten, gingen schon nach zehn Tagen zur Neige, und dann müssten Flüchtlinge Geld verdienen, um Lebensmittel zu kaufen. Das nutze „eine relativ wohlhabende Elite, einschließlich UN-Mitarbeiter, Friedenssoldaten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen“ aus, um Kinder zu schänden. Die Folge: Viel mehr Mädchen werden schwanger als normalerweise. In einem Lager gebe es „sechs Geburten pro Woche von Mädchen unter 18; 50 Prozent der Teenage-Mädchen im Lager sind schwanger, 75 Prozent aller Mädchen in der Schule.“ Weiter heißt es: „Das Team war allerdings nicht in der Lage, diese Zahlen zu bestätigen, da keine Daten von Nichtregierungsorganisationen vorliegen“. Als ob diese über ihren Geschlechtsverkehr Buch führen würden.

Der Reflex der Selbstverteidigung ist in Kreisen von UNO und Hilfswerken groß. Schon der Bericht vom Februar war vier Monate lang zurückgehalten worden, und veröffentlicht wurde er nur in einer geschönten Fassung ohne Namen von betroffenen Opfern und Organisationen. „Das waren allesamt Aussagen von Leuten, die sich nicht selbst als Opfer zu erkennen gegeben haben“, meint Andreas Kirchhoff, UNHCR-Mitarbeiter in Berlin, konzediert aber: „So was denken die sich ja nicht aus.“

Offiziell behauptet das UNHCR seit Februar, es gebe keine Bestätigung eines Vorwurfs gegen seine Mitarbeiter. „Bloß Geschwätz und Gerüchte“ seien das, sagte Lubbers dem Weltkindergipfel. Intern jedoch fliegen die Fetzen. Der komplette Bericht vom Februar, in dem 67 Einzelfälle und 40 inkriminierte Hilfswerke stehen sollen, ist zahlreichen Insidern bekannt. Untersuchungen laufen, das UNHCR arbeitet mit Hilfswerken an einem Verhaltenskodex für Helfer.

Lubbers nannte am Donnerstag in New York zwei Kernpunkte der neuen Richtlinien: Lebensmittelverteilungen sollen nur noch von Frauen durchgeführt werden; sexuelle Beziehungen zwischen Helfern und Flüchtlingen sind grundsätzlich verboten. Sinn der Verbotsregel ist, dass sich Flüchtlinge offiziell über sexuellen Missbrauch beschweren können. „Null Toleranz“ nennt Lubbers das – ein Begriff, den bereits die ständige Arbeitsgruppe von UNHCR und anderen Hilfswerken gebraucht, die das Regelwerk erarbeitet. In ihrem ersten Bericht vom 30. April berichtet sie über Fortschritte: In Sierra Leone habe es „über fünf“ Workshops zum Kampf gegen sexuellen Missbrauch gegeben. In Liberia bewache die Polizei seit Mitte April alle Flüchtlingslager. In Guinea veranstalte das UNHCR Diskussionsabende mit Schulmädchen. Das klingt nicht nach entschlossenem Durchgreifen. Der Bericht vom Februar benannte demgegenüber das Grundproblem: Zwischen Gebern und Empfängern von Hilfe herrscht immer ein strukturelles Machtgefälle. Um zu verhindern, dass dieses Gefälle missbraucht wird, reicht es nicht aus, nur Helfer zu schulen und Opfer zu sensiblisieren. Der Bericht fordert strukturelle Veränderungen: Flüchtlinge sollten Ackerland erhalten, um Nahrungsmittel anbauen zu können. Und Hilfswerke sollten unter den von ihnen betreuten Bevölkerungen „Initiative fördern, nicht Abhängigkeit und Machtlosigkeit“.