: Verzückung oder Flasche leer
Seit diesem Wochenende rollt der Ball bei der Fußballweltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea. Jetzt muss sich zeigen, ob der Schwung von Frankreich 1998 reicht für ein weiteres berauschendes Turnier oder ob die Apologeten des Defensivfußballs schon wieder die Oberhand gewinnen
von MATTI LIESKE
Hurra, endlich ist es so weit: Wahnsinnsspiele, tolle Tore, nervenzerfetzende Verlängerungen, Elfmeterdramen. Zaubernde Zidanes, grätschende Maldinis, bananenflankende Beckhams, ballernde Ballacks, grantelnde Figos, rasende Ronaldos. Dazu die wehenden Haare eines Winnie Schäfer, das grimme Nussknackergrinsen eines Oliver Kahn, die ballettöse Leichtigkeit eines Nwankwo Kanú, die kolossale Durchtriebenheit eines Raúl, das Nachtklubrausschmeißergehabe eines Chilavert und natürlich noch einmal Zidane, der Göttliche, Beherrscher aller Bälle, Beglücker aller Bewunderer gesteigerter Fußballästhetik. Die Zeit des großen Festes ist gekommen, Erinnerungen werden wach an die glorreichen Tage der Vergangenheit: das Wunder von Bern, Pelés Himmelssturm in Schweden, das dritte Tor von Wembley, Jairzinhos Flankenläufe im Aztekenstadion, Sparwassers Spannstoß ins Zentrum deutscher Selbstherrlichkeit, die maradoneske Hand Gottes, Zidanes finale Kopfdoublette von St. Denis.
Großes Fest? Moment mal, war da nicht was? Zum Beispiel Mussolinis hässliche Propagandaschau von 1934, das grausame Gewürge und Geprügel in Chile 1962, die WM der argentinischen Junta 1978, Gijón und Gentile 1982 oder das Inferno der Destruktion, Italia 90, wo Fußballspiele ausschließlich per Elfmeter entschieden wurden. Voller Qualen haben wir längst gelernt, dass Weltmeisterschaft nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit großem Fußball, und bedeutungsschwer erhebt sich die bange Frage: Was erwartet uns in den kommenden Wochen in Japan und Südkorea? Opulenter Frühstücksfußball der Verzückung, der einen beschwingt in den restlichen Tag entlässt, oder ein unverdauliches Katerfrühstück, das einem im Magen liegt wie ein Fußball der Marke Fevernova: viel zu schwer.
„Länderspiele“, sagte einmal voller Geringschätzung der Fußballtrainer Arsène Wenger, „die schaue ich mir schon lange nicht mehr an.“ Es war jedoch keineswegs eine Verdammung des Ländervergleichen inhärenten Nationalismus, welche den Franzosen zu dieser Aussage trieb, seinem harschen Verdikt lagen vielmehr rein fußballästhetische Erwägungen zugrunde. Guten Fußball gebe es eben nur auf Vereinsebene zu sehen, war die Überzeugung des Coaches von Arsenal London. Dann kam jedoch die Weltmeisterschaft 1998, und Wenger musste sein Urteil revidieren.
Beim Turnier in Frankreich zeigte sich, dass guter Vereinsfußball durchaus auch auf Nationalmannschaften abfärben kann und diese sich, bis auf gewisse Ausnahmen, keineswegs zwangsläufig gegen die Entwicklungen im modernen Fußball abschotten müssen. Solche, die es taten, wie die Spanier, Norweger, Italiener und natürlich die Deutschen, bekamen die verdiente Quittung in Form eines frühen Ausscheidens.
Der Fußball, das zeigt die Geschichte der letzten fünfzig Jahre deutlich, entwickelt sich in Zyklen, ähnlich wie Politik und Wirtschaft. Auf verheerende Krisen folgen Zeiten des fröhlichen Booms, nach konservativen Durststrecken voller Stagnation und Niedergang gibt es Phasen des Fortschritts und des Aufbruchs, auf rechten Fußball folgt, um es mit den Kategorien des großen César Luis Menotti zu erfassen, linker Fußball und umgekehrt.
Die Logik dieser Entwicklung folgt streng der marxistischen Theorie von den Produktivkräften. Ein Teilnehmer am Wettbewerb überwindet den Status quo mittels neuer Produktionsmethoden, im Fußball Taktik genannt, und verschafft sich so einen Vorteil dem Rest gegenüber. Dieser ist – bei Strafe des Untergangs, wie es Mister Marx so hübsch formulierte – gezwungen, den Innovationsschritt des Konkurrenten nicht nur schnellstens nachzuvollziehen, sondern, so es ihm seine Möglichkeiten erlauben, eine Methode zu ersinnen, mit der er sich seinerseits einen Vorsprung verschaffen kann. Im Fußball dauern die einzelnen Zyklen im Übrigen gemeinhin sechs bis acht Jahre.
1958 war es nicht nur der Auftritt des siebzehnjährigen Pelé, der den Brasilianern den Weg zur besten Mannschaft der Welt ebnete, sondern auch das 4-2-4-System, mit dem Trainer Vicente Feola das alte WM-System der Europäer aushebelte. Eine ähnliche Variante hatte zwar zuvor bereits das ungarische Wunderteam praktiziert, doch die Brasilianer fügten noch die Dribbelkünste Garrinchas und die Genialität Pelés hinzu. Niemand war dem mächtigen Ansturm der wirbelnden Virtuosen aus Südamerika gewachsen, selbst die Schweden wirkten im Finale wie Holzpuppen, die gegen umherflitzende Zeichentrickfiguren antraten.
Der Gegenschlag folgte jedoch auf dem Fuße. Hatte es bis dahin eigentlich nur Offensivfußball gegeben, der bei den WM-Turnieren bis 1958 stets für beachtliche Torfluten gesorgt hatte, wurde nun das Konzept der massiven Defensive aus der Taufe gehoben. Der berüchtigte Helenio Herrera heckte bei Inter Mailand als Antimodell zum Angriffsfußball, wie ihn auf Klubebene etwa Real Madrid, FC Barcelona, Benfica Lissabon oder AC Mailand pflegten, seine Ideologie des Catenaccio aus. Gnadenlos rechter Fußball, würde Menotti sagen, der zu einem guten Teil auf roher Gewalt basierte, sich verbreitete wie ein Lauffeuer und die Weltmeisterschaften 1962 und 1966 vergiftete. Das Turnier in England barg allerdings schon wieder einen Keim der Hoffnung in sich, der besonders mit dem Auftreten der jungen deutschen Mannschaft verknüpft war, die Vize-Weltmeister wurde, mit einem genialen Mittelfeld brillierte und ihr Heil wieder konsequent im Angriff suchte.
Fürderhin sorgte das 4-3-3-System für eine neue Blüte, auf Vereinsebene brach mit Manchester United und Ajax Amsterdam eine goldene Zeit an, eindeutige Höhepunkte dieser Phase waren die packende WM 1970 in Mexiko und die Europameisterschaft 1972, mit dem besten deutschen Team aller Zeiten. 1974 markierte das Ende jener Ära. Zwar verliehen Johan Cruyff und seine Holländer dem WM-Turnier in Deutschland mit ihrem totalen Fußball noch einen unverhofften Glanz, doch Beckenbauer hatte mit seinem Liberosystem längst die Notbremse gezogen. Bis dahin waren die größten Fußballer stets Angreifer gewesen, doch Beckenbauer definierte das Spiel von der Defensive her. Eine Ideologie, die er später im Übrigen auch als Trainer beibehalten sollte.
Damit war der Grundstein gelegt für neue Jahre der Ödnis, die im Europacup die Dominanz von Betonteams wie Bayern München, Nottingham Forest oder FC Liverpool brachten, dazu zwei unsägliche Weltmeisterschaften in den Jahren 1978 und 1982.
Wiederum barg das Turnier in Spanien jedoch die Verheißung besserer Tage in sich, verkörpert durch den aufstrebenden Maradona, Platinis Franzosen und Zicos Brasilianer, für die Kreativität vor Zerstörung ging. Zwei Jahre später wurden die Franzosen im eigenen Land Europameister, und das Turnier war entgegen finsterster Prognosen ein Fest für den Fußball, ebenso wie die WM in Mexiko 1986, wo Dänen, Belgier, Brasilianer, Argentinier, Spanier, Sowjets, Mexikaner und Franzosen furios nach vorn stürmten, teilweise schnurstracks ins eigene Verderben. Es war auch die große Zeit der italienischen Serie A, wo alles spielte, was Rang und Namen hatte, und so viele Tore fielen wie niemals vorher oder nachher. In Europa dominierte voller Grandezza der AC Mailand, dessen Holländer Gullit, Rijkaard und van Basten 1988 bei einem weiteren glanzvollen Turnier Europameister wurde.
Das Roll-back ließ nicht auf sich warten. Die Ausgespielten von 1988 machten hinten dicht, 1990 sah das defensivste WM-Turnier seit 1962, die Schweden 1992 eine öde EM, die nur durch Zufallsteilnehmer Dänemark belebt wurde. 1994 in den USA gab es eine weitere Demonstration unansehnlichen Gekickes, bei dem Weltmeister Brasilien kaum gefordert wurde und im gesamten Turnier bloß drei Tore kassierte. Zwei Jahre später wurde zwar Bertis Deutschland Europameister, doch ließen Franzosen und Niederländer erkennen, dass sich am Horizont langsam ein Lichtstreif zeigte.
Dennoch kein Wunder, dass Arsène Wenger zu jener Zeit wenig Vergnügen am Fußball der Nationalteams fand, während in der Champions League mit Ajax Amsterdam, Juventus Turin, FC Barcelona und Manchester United schon längst wieder attraktiver Fußball eingekehrt war. Ein Fußball, der den Libero zugunsten eines zusätzlichen Mittelfeldspielers abgeschafft, die Manndeckung verworfen und teilweise sogar den Außenstürmer wieder entdeckt hatte. All das, was sich dann bei der WM in Frankreich und auch bei der EM 2000 so wohltuend und spektakulär auswirkte.
Anlässlich der WM 2002 stellt sich nun die Frage, in welcher Phase des ewigen Kreislaufs wir uns befinden und was wir fußballerisch von dieser WM erwarten dürfen. Die Aussichten sind nicht die allerbesten. Die Historie zeigt, dass es seit 1958 niemals zwei großartige, von bedingungsloser Offensive geprägte Weltmeisterschaften hintereinander gegeben hat, der Schwung reichte meist gerade noch für eine flotte EM.
Dennoch sollte diese WM noch von der 98er-Saat zehren, angereichert durch eine Erschütterung der alten Hierarchien, den lange fälligen Durchbruch von Teams aus Asien oder Afrika, die schon in Frankreich kräftig aufmüpften, aber noch nicht die Nerven besaßen, den alteingesessenen Europäern und Südamerikanern dauerhaft Paroli zu bieten. Eine WM des Übergangs also, mit kühnen ehrgeizigen Entwürfen auf der einen Seite, aber auch schon ängstlichen, auf Risikominimierung ausgerichteten Strategien auf der anderen. Verlassen kann man sich dabei nicht einmal mehr auf Brasilien, einzige bei allen Weltmeisterschaften vertretene Mannschaft, die so taumelig durch die Qualifikation stolperte wie niemals zuvor. Mit Felipe Scolari hat sie einen Trainer, der ein Apologet der Defensive ist, ähnlich wie seine unrühmlichen Vorgänger Lazaroni (1990) oder Zagalo (1974). Italiens Giovanni Trapattoni ist geradezu berüchtigt für seinen Flasche-leer-Fußball und dürfte Dino Zoffs immerhin kreatives Defensivsystem, das vor zwei Jahren beinahe den EM-Sieg brachte, noch verschärfen. Die Afrikaner wiederum haben zumeist ihrem alten Hurrastil abgeschworen, die stets angriffsfreudigen Niederländer blieben schon im Vorfeld auf der Strecke.
So ruhen die Hoffnungen der Freunde rasanten Fußballs vor allem auf den hochgehandelten Teams aus Frankreich, Portugal und Argentinien. Diese werden jedoch diesmal spätestens ab dem Achtelfinale auf Mannschaften treffen, die ihrem Angriffswirbel mit strikter, wohlorganisierter Abwehrarbeit begegnen, eine ziemlich genaue Vorstellung davon haben, wie sie den Favoriten Sand ins Getriebe streuen und entweder im Elfmeterschießen oder durch einen seltenen Konter triumphieren können. Ein Muster, das die Iren anwandten, als sie die Niederlande in der Qualifikation kippten, ein Muster, das auch in der letzten Saison der Champions League zunehmend in Mode kam. Denn auch im Vereinsfußball zeichnet sich mal wieder das Ende der Sturm-und-Drangjahre ab. Spätestens seit im vergangenen Jahr mit Bayern München und dem FC Valencia ausgerechnet die beiden defensivsten aller Viertelfinalisten das Finale erreichten, hat ein Umschwung eingesetzt.
Von den rigorosen Protagonisten des Offensivfußballs schaffte es nur Bayer Leverkusen, die Fahne bis zum Ende hochzuhalten, der AS Rom und Wengers FC Arsenal schieden in der zweiten Runde aus, der FC Barcelona scheiterte im Halbfinale am späteren Champion Real Madrid. Dessen letztes offensiv geführtes Match war das Viertelfinalrückspiel gegen die sich einigelnden Münchner Bayern, den Rest brachte Real in drei Abwehrschlachten gegen Barcelona und Leverkusen über die Bühne. Die Lektion des Vorjahres, als sie von den Bayern im Halbfinale niedergekontert wurden, war offensichtlich angekommen.
Ähnliches gilt für Manchester United, das kaum noch etwas verbindet mit jener Mannschaft von vor einigen Jahren, welche die Abwehrarbeit weitgehend Torwart Schmeichel überließ und das gegnerische Tor mit Kaskaden von Giggs-Dribblings, Keane-Schüssen und Beckham-Flanken auf die schnellen Stürmer Cole und Yorke berannte. Heute verlässt sich Manager Alex Ferguson weitgehend auf die Knipserqualitäten der van Nistlerooy und Solskjaer. Dass mit dem FC Liverpool und Deportivo La Coruña ausgerechnet die größten Abwehrbollwerke ihrer jeweiligen Ligen ins Viertelfinale einzogen, macht die Sache nicht besser. „Wir haben eine Entwicklung verschlafen“, klagte Roms Fabio Capello nach dem vergeblichen Sturmlauf in Liverpool. Gemeint haben konnte er nur die Entwicklung zur verstärkten Defensive.
Erstaunlicherweise sind es die deutschen Teams, allen voran Leverkusen, aber auch Borussia Dortmund, die zu den Lichtblicken der europäischen Wettbewerbe gehörten, und auch der Umbruch bei den Bayern deutet auf eine ideologische Wandlung hin, zumindest wenn er irgendwann auch Defensivapostel Hitzfeld erfasst. Die Frage ist, ob der Leverkusener Nukleus im deutschen Nationalteam es schaffen kann, den Geist aus der Champions League in Rudi Völlers Mannschaft zu transplantieren. Die Spiele der Vorbereitung haben jedenfalls gezeigt, dass die viel zitierten deutschen Tugenden diesmal nicht weiterhelfen werden, weil sie bei anderen Teams in viel höherem Maße vertreten sind.
Die Vorstellung, Gruppengegner wie Irland, Saudi-Arabien oder Kamerun niederkämpfen zu können, ist pure Illusion. Das Rezept kann nur von Bayer verordnet werden und besteht darin, ohne Ze Roberto, Bastürk, Lucio, Placente so zu spielen, als wären Ze Roberto, Bastürk, Lucio, Placente auf dem Platz: furchtlos, schnell, kreativ und vor allem beweglich.
„Wir können etwas erreichen, nicht weil wir gut sind, sondern weil die anderen genauso schlecht sind wie wir“, hatte Franz Beckenbauer vor der EM 2000 gesagt und sich gründlich geirrt. Niemand war in Belgien und den Niederlanden so schlecht wie die Deutschen. Selbst wenn es mit Völler statt Ribbeck diesmal besser laufen sollte, eines scheint ziemlich gewiss: Die WM ist ein Turnier für 32 Mannschaften, und am Ende gewinnt auf keinen Fall Deutschland.
MATTI LIESKE fieberte 1966 vierzehnjährig zum letzten Mal rückhaltlos mit dem deutschen Team. Seit 1985 ist er Leibesübungen-Redakteur der taz
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