: Westerwelle redet, andere handeln
Möllemann setzt sich durch: Jamal Karsli bleibt gegen den Widerstand von Westerwelle, Genscher, Lambsdorff und Hirsch in der nordrhein-westfälischen FDP-Fraktion. Protest von Parteien, Zentralrat der Juden und Muslimen. Berliner FDP-Frau tritt aus
BERLIN taz ■ Die FDP gerät in der Antisemitismusaffäre zunehmend unter Druck. Am Montagabend hatte der Landesvorstand der FDP in NRW entschieden, dass der umstrittene Abgeordnete Jamal Karsli Mitglied der FDP-Fraktion bleibt. Dies ist ein Sieg von Jürgen Möllemann gegen Parteichef Guido Westerwelle. Westerwelle hatte sich kürzlich noch als der starke Mann der Partei inszeniert. „Andere reden, ich handele“ – so der FDP-Chef vor zwei Wochen, nachdem er Karslis Eintritt in die FDP verhindert hatte. Seit vorgestern ist nun offenkundig, wo Westerwelles Macht endet. Auch die Ex-FDP-Minister Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff sowie der Altliberale Burkhard Hirsch hatten sich vergeblich für Karslis Ausschluss eingesetzt.
Der FDP-Chef gilt nun als beschädigt. Auch die Union, die nach wie vor mit der FDP koalieren will, sorgt sich um Westerwelles Autoritätsverlust. Wohl deshalb stellten sich Genscher, Lambsdorff und Hildegard Hamm-Brücher gestern demonstrativ hinter ihn. SPD-Generalsekretär Franz Müntefering sagte, dass Westerwelle „machtlos“ sei. Der FDP-Chef sprach von „schäbigen Wahlkampfmanövern“ anderer Parteien.
In der FDP rumort es indes weiter. Der Stuttgarter FDP-Fraktionschef Erwin Pfister erklärte, Möllemann müsse sich bei Michel Friedman entschuldigen – oder als Vizeparteichef der FDP zurücktreten. Die Berliner FDP-Politikerin Susanne Thaler wird aus der Partei austreten – „nicht nur wegen Möllemann, sondern vor allem wegen Westerwelles Schwäche“. Thaler sagte gestern zur taz: „Ich möchte nicht das jüdische Feigenblatt dieser Partei sein.“ Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, forderte „einen Aufstand der Demokraten“, um ein klares Signal gegen Antisemitismus zu setzen.
Erstmals bezogen deutsche Muslime deutlich Position gegen Möllemann. Der Türkische Bund Berlin Brandenburg (TBB) unterstützt einen Demonstrationsaufruf der Jüdischen Gemeinde, die heute in Berlin vor der FDP-Zentrale protestieren will. Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland hat den FDP-Vize scharf kritisiert. „Mit antisemitischen Stimmungen Politik zu machen, muss tabu sein“, erklärte deren Vorsitzender Hakki Keskin. Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Nadeem Elyas.
Faruk Sen, Leiter des Essener Instituts für Türkeistudien, hält Möllemanns Kalkül, mit Anti-Israel-Parolen muslimische Wähler zu gewinnen, für wenig aussichtsreich. Es gebe, so Sen gegenüber der taz, auch nicht 800.000 muslimische Wähler, wie Möllemann vermute, sondern 470.000, die traditionell mehrheitlich SPD wählen.
Auch aktuelle Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass die Antisemitismusaffäre der FDP derzeit eher schadet. In einer Forsa-Umfrage sacken die Liberalen auf 9 Prozent ab. Laut Emnid liegt die FDP bei 10 Prozent, ein Prozentpunkt weniger als in der Vorwoche. Offenbar, so vermutet Emnid, eine Folge des zerstrittenen Eindrucks der FDP und der Führungsschwäche von Westerwelle. STEFAN REINECKE
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