„Natürlich bin ich nicht zufrieden“

Bildungssenator Klaus Böger ist in der Defensive: Zwei Drittel der Kinder sprechen schlecht Deutsch, schon wieder streiken die Erzieherinnen, und bei Pisa ist Berlin auch nicht dabei. Ein Gespräch über Bildungsreformen zwischen Spardruck und Moral

Interview SABINE AM ORDE
und CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Böger, wacht die Berliner Bildungspolitik erst auf, wenn türkische Jugendliche gegen ihre Benachteiligung auf die Barrikaden gehen und sich Straßenschlachten mit der Polizei liefern?

Klaus Böger: Die Bildungspolitik muss nicht aufwachen, weil sie nicht eingeschlafen war.

Der internationale Schülervergleich Pisa und die Berliner Sprachstandserhebung „Bärenstark“ haben eine mittlere Bildungskatastrophe aufgedeckt. Und Sie machen so weiter wie bisher.

Pisa und Bärenstark stellen Sachverhalte fest, die sich über ein Jahrzehnt entwickelt haben. Man kann doch nicht so tun, als wenn man das in einem oder zwei Jahren zum Guten wenden könnte. Glauben Sie mir: Das Gegensteuern hat bereits begonnen.

In Wedding wurde den Kindern bereits im Jahr 2000 eine dramatisch schlechte Sprachkompetenz bescheinigt, inzwischen hat sich die Situation weiter verschlechtert. Wo ist da erfolgreiches Gegensteuern?

Ich habe die 2000er-Ergebnisse zum Anlass genommen, im Berliner Kleingrabenkampf durchzusetzen, dass Sprachstandserhebungen notwendig und sinnvoll sind. Diejenigen, die heute so tun, als hätte man schon vorgestern was machen müssen, das waren gestern diejenigen, die Messungen verhindern wollten.

Das ändert aber doch für die betroffenen Kinder nichts. Deren Eltern haben den Eindruck, dass es die Politik gar nicht kümmert, wenn Zuwandererkinder bestenfalls auf der Hauptschule landen und kaum berufliche Chancen haben.

Es stimmt ja nicht, dass alle nichtdeutschen Kinder auf der Hauptschule landen. Aber es ist die überwiegende Mehrheit, und das müssen wir ändern.

Wie? Was sagen Sie den besorgten Eltern?

Ich konfrontiere sie zuerst mal mit einer Frage: Wie fördern Sie die Bildung und Erziehung ihrer Kinder? Und dann bekenne ich mich zu der Verantwortung, dass wir in Berlin über ein Jahrzehnt lang die Migrationsproblematik elegant beschrieben, aber nicht aktiv gehandelt haben.

Machen Sie das nicht genauso: elegant reden, wenig tun?

Politik hat auch die Aufgabe, zuerst mal in die Köpfe reinzukriegen, wo die Defizite liegen. Ich habe im Jahr 2001 gepredigt, dass eine Schulabbrecherquote von 25 Prozent bei den nichtdeutschen Jugendlichen nicht hinnehmbar ist. Ich habe daher den Schulen mit einem Migrantenanteil von mehr als 40 Prozent mehr Sprachlehrerstunden gegeben. Ich habe die Fortbildung der Lehrer für Deutsch als Zweitsprache intensiviert und lasse dafür einen Lehrplan ausarbeiten. Die Gleise für eine andere Entwicklung sind gelegt.

Die künftigen Schulkinder brauchen aber sofort Sprachförderung – in kleinen Kitagruppen. Die können nicht warten, bis Ihr Zug schwerfällig auf neue Gleise einbiegt.

Zwischen dem Wissen um diese Notwendigkeit und der methodischen und didaktischen Umsetzung liegt eine Strecke, die Zeit braucht. Die Erzieherinnen tun ihr Bestes, aber es fehlt ein systematisches Gerüst. Wir werden die Fortbildungsmittel, die wir haben, auf dieses Problem konzentrieren.

Für Sprachförderung in Berliner Grundschulen gibt es heute 1.500 Plätze. Laut Bärenstark werden aber 4.000 oder 5.000 Plätze allein in der Innenstadt gebraucht. Werden Sie diese Plätze schaffen?

Meine Güte, ich verwende derzeit zwei Drittel meiner Zeit darauf, im Haushalt den vorhandenen Ansatz zu rechtfertigen – und das letzte Drittel damit, dass nicht noch mehr gestrichen wird. Es ist beileibe nicht in allen Köpfen, dass Bildung stabile Finanzen braucht.

In den 90er-Jahren hatten auch Sie noch anderes im Kopf. Da haben Sie als Fraktionschef der SPD massive Kürzungen in den Kitas und auch bei Deutsch als Zweitsprache in den Grundschulen durchgesetzt.

Ja, ich habe viel konsolidiert, das ist wahr. Aber die Ergebnisse können damals trotz höherer Mittel auch nicht so toll gewesen sein – 25 Prozent der nichtdeutschen Jugendlichen haben die Schule abgebrochen. Mehr Mittel allein, das reicht eben nicht. Wir brauchen Systematik, Methodik und Überprüfung.

Warum setzen Sie dafür nicht die 2.500 Lehrerstellen ein, die wegen des Schülerrückgangs in den nächsten Jahren frei werden?

Mich müssen Sie nicht überzeugen. Rund 1.000 dieser Stellen haben wir gerettet. Die Wahrheit ist, dass wir aufpassen müssen – sonst verschwinden auch die noch im Haushaltsloch.

Das verstehen die Menschen nicht. Es gibt riesige Probleme in der Bildung – und der Senat kürzt. Muss man nicht jetzt die Einsparungen bei den Kitas zurücknehmen?

Das geht zeitlich gar nicht mehr. Der Haushalt wird kommende Woche beschlossen. Zum anderen sind die Kürzungen keine Katastrophe: Wir übertragen den Hortschlüssel Ost auf West, wir reduzieren die Freistellung von Kitaleiterinnen. Ich gebe aber zu: Was uns Pisa und Bärenstark über Kindergärten sagen, weist in eine andere Richtung.

Damit geben Sie sich zufrieden? Sie sind der verantwortliche Senator.

Natürlich bin ich nicht zufrieden, was denken Sie!

Fehlt Ihnen die Rückendeckung? Wünschen Sie sich mehr Unterstützung?

Davon kann es nie genug geben.

Gerhard Schröder hat Bildung auf Bundesebene zur Chefsache erklärt. In Berlin ist davon wenig zu merken, obwohl Sie’s im Wahlkampf doch versprochen haben.

Ich bin mir sicher, dass Klaus Wowereit um die Priorität Bildung weiß.

Sie haben Klaus Landowsky im Parlament verschiedentlich darauf hingewiesen, wie wichtig eine moralische Kategorie in der Politik ist. Werden Sie Ihrem Anspruch noch gerecht?

Ja, wenn ich nicht glauben würde, dass es richtig ist, was ich hier tue, dann würde ich von heute auf morgen aufhören.

Herr Böger, die ersten bekannt gewordenen Details des Pisa-Bundesländervergleichs besagen, dass die CDU-regierten Südländer, allen voran Bayern, gut abgeschnitten haben, die SPD-regierten Länder schlecht. Sind Sie eigentlich froh, dass Berlin nicht dabei ist?

Nein, ich bin stinksauer, dass Berlin im ersten deutschen Ländervergleich der Schulsysteme nicht auftauchen wird. In zwei Schulformen hatten sich hier nicht genug Schüler an dem Test beteiligt.

Warum haben Sie denn nicht früher dafür gesorgt, dass die fehlenden Daten Ihrer Schüler nacherhoben werden? Sie hatten doch genug Zeit dafür.

Das ist falsch. Die deutschen Pisa-Auswerter hatten zunächst versucht, die mangelnde Beteiligung anhand von Vergleichszahlen für Berlin hochzurechnen. Das hätte das Ergebnis nicht verfälscht und viel Geld gespart – aber es war technisch eben nicht machbar. Wenn dann die OECD nicht so lange rumgedruckst hätte, wären die Nachtests in Berlin und Hamburg leicht möglich gewesen …

und Berlin wäre unter 16 Bundesländern auf Platz 16 gelandet.

Mir wäre eine rote Laterne lieber gewesen als ein bunter Lampion voller Illusionen.

Eine Illusion sind wir jedenfalls los: dass die SPD bildungspolitisch ein Konzept hätte.

Das ist doch Quatsch. Wir haben schon vor Pisa die Weichen gestellt. Die Sozialdemokraten in Berlin haben im Februar vergangenen Jahres einen bildungspolitischen Leitantrag verabschiedet, der alles enthält, was jetzt nötig ist.

Wir haben den Eindruck, dass Sie genau das Gegenteil machen. Aus Pisa lässt sich etwa lernen, dass die frühe Auslese und Trennung der Kinder nach Leistung falsch ist. Sie aber demolieren das lange gemeinsame Lernen in der Berliner Grundschule, anstatt es stark zu machen.

Ableiten kann man aus Pisa, dass integrative Schulsysteme offensichtlich optimalere Förderungsbedingungen haben – in der Leistungsspitze genau wie bei den schwächeren Schülern. Hätten wir das gesellschaftliche Klima, das etwa in Finnland herrscht, dann wäre das ohne Frage auch für uns ein sinnvolles Konzept. Aber Deutschland ist nicht so. Wir haben einen regelrechten Kulturkampf um die Gesamtschule hinter uns – für diese Schule als Leitbild des Schulsystems bekommen Sie keine Unterstützung.

Aber Sie ermöglichen es neuerdings auch Berliner Grundschullehrern, schon ab der fünften Klasse schwache Schüler rauszuschmeißen.

Das ist eine maßlose Übertreibung. Wir wollen es in der Grundschule erlauben, von fünf Stunden Deutsch drei in räumlich getrennten Arbeitsgruppen durchzuführen – um die besseren Schüler fordern und die andern fördern zu können.

Aber guter Unterricht entsteht doch anders: durch die so genannte Binnendifferenzierung in der Klasse. Der Lehrer ist dann gezwungen, seinen Unterricht bis auf den einzelnen Schüler zu individualisieren. Das sagt ihnen heute jeder Wissenschaftler.

Jeder Praktiker weiß, dass Binnendifferenzierung ein schönes pädagogisches Schlagwort ist – aber ein teuflisch schweres Unterfangen.

Herr Böger, die SPD hatte bei Pisa auch taktisch keinen Plan. Wer ist denn auf die Schnapsidee gekommen, den ersten Schülervergleich zwischen den Ländern 90 Tage vor der Bundestagswahl zu veröffentlichen?

Die Leute, die Pisa geplant haben, haben das Datum im September übersehen. Die Pisa-Ergebnisse verlangen politische Entscheidungen – und keine polemischen Debatten. Leider wurde von interessierter Seite die Chance genutzt, kurz vor dem Bundesparteitag der CDU eine vermeintliche Rangliste der Länder hochzuspielen.

Das macht die Ergebnisse nicht besser.

Selbst wenn sie so wären, könnte man sich damit bildungspolitisch auseinander setzen. Wer glaubt, dass die ganze Republik spitze wäre, wenn sie wie Bayern wäre, der irrt.

Sie reden sich heraus.

Nein, denn dann wären wir alles andere als Spitze, wir hätten schlicht zu wenig Abiturienten. In dieser Hinsicht ist Bayern absolut kein Modell.

Kann Berlin denn beim Gymnasialvergleich der Länder mithalten?

Das werden wir sehen. Wenn es nicht so ist, dann müssen wir uns dem stellen. Die grausame Wahrheit ist, dass die Pisa-Studien für Deutschland einen enormen Reformbedarf offenbaren. Nach Pisa wird nichts mehr so sein wie vor Pisa.