: Vorsicht: Seesterne zum Anfassen
Das Multimar Wattforum in Tönning will Besucher die Biologie der Nordsee erleben lassen: Der Griff ins Aquarium ist erlaubt. Um Wissen zu vermitteln, setzen die Ausstellungsmacher auf Erfahrung, zu Lesen gibt‘s nicht mehr als nötig. Seehundeleben in Friedrichskoog
von GERNOT KNÖDLER
Im Brandungsbecken wartet ein Seestern aufs Mittagessen. Mit seinen stacheligen Armen umschmiegt er eine Miesmuschel. Über kurz oder lang wird sie sich einen Spalt breit öffnen. Der Seestern wird Gift hineinspritzen, ihre Schalen aufspreizen und das zarte Fleisch fressen.
Zu sehen ist hiervon im „Multimar Wattforum“ in Tönning bloß die tödliche Umarmung. Den Rest erläutert Gerd Meurs, der Leiter der Erlebnisausstellung des „Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer“ einer Schulklasse, die ihren Biologieunterricht bereichert. Meurs‘ Gehirn ist ein Schatzkästlein der Meeresbiologie: Bis zu 400 Seesterne pro Quadratmeter, erzählt er, seien in der Nordsee zu finden. Kriechen sie über eine Muschelbank her, kostet das den Züchter in einer Woche leicht 200.000 Euro.
Ein Mittel dagegen wird am Brandungsbecken deutlich. Die Krebse, Seeigel und Seesterne dürfen zwar vorsichtig angefasst werden. Doch will einer einen Seestern aus dem Wasser heben, schreitet eine junge Frau im blauen Sweat-Shirt ein. Die Seesterne vertragen die Luft nicht. Merke: Wer Muschelbänke in der Gezeitenzone kultiviert, hat eine Sorge weniger.
Lernen aus Erfahrung – PR-Mann Claas Hammes legt Wert auf die Feststellung, er arbeite nicht in einem Museum. Man wolle den Besuchern „einen erlebnisorientierten Tag“ bieten, der zeigt, wie Naturschutz funktioniert und warum er gemacht wird. „Man schützt nur, was man kennt“, sagt Hammes. Um dem Spaß keinen Abbruch zu tun, beschränken sich die Ausstellungsmacher auf prägnante Kommentare: „Wenn sich die nordische Purpurschnecke aufgrund hoher Schadstoffbelastung nicht fortpflanzen kann, vermehren sich ihre Beutetiere, die Seepocken, rasant.“ Kürzer lässt sich der ökologische Zusammenhang kaum darstellen.
Ein paar Klicks durch ein Computerprogramm informieren bildlich über die Einleitung von Schadstoffen in die Deutsche Bucht und deren Ausbreitung. Ein Karussell, bei dem Vogelbilder an den rechten Platz gedreht werden müssen, zeigt: „Jeder frisst so tief er kann.“ Die schwarz-weiß-braune Eiderente zum Beispiel schluckt Miesmuscheln noch in 35 Metern Tiefe. Der Magen des muskulösen Vogels zerreibt die schwarzen Schalen, um deren Inhalt besser verdauen zu können.
In eine mannshohen Klapptafel zwei Meter weiter ist eine ausgestopfte Eiderente eingearbeitet, die nach einem Muschelklumpen taucht. Der Klumpen entspricht der Tagesration einer Ente. Er kann in der Hand gewogen und das geschätzte Gewicht an einer Federwaage überprüft werden: zwei Kilogramm. Die Klapptafeln – „Themenbücher“ nennt sie Hammes – öffnen sich, sobald wer davortritt. Bei Regenwetter kommen im Sommer so viele Gäste, dass sie sich erst gar nicht mehr schließen.
Für jeden Lebensraum des Wattenmeeres gibt es im Multimar ein Aquarium. Das beginnt beim Gezeitenbecken zum Reingreifen, in dem die Tide alle anderthalb Stunden wechselt. Beliebt bei Kindern ist das Brandungsbecken, weil sie per Kurbel selbst für Seegang sorgen können. Es gibt einen Priel, Geröll- und Sandgrund, Hafenbecken sowie Helgoland von unten. Vier gepanzerte Seeskorpione und eine Goldmaid ruhen in den Auswaschungen des Inselsockels.
Eine Wand mit kleinen Becken dient der Hommage an die Details des Meereslebens: Der Porzellankrebs fächert sich Futter vors Maul, als würde er ständig Maulschellen verteilen: links-rechts. Katzenhai-Embryos zappeln in kleinfingerlangen Eikapseln. Seepferdchen umschlingen mit dem Schwanz Büschel von Seegras.
An der Nachzucht von Seepferdchen sind die Leute vom Multimar gescheitert. 400 Eier hatte das männliche Seepferdchen „Pelle“ in seiner Bauchtasche getragen. „Wir hatten gehofft, dass wenigstens zehn Prozent der Jungen überleben“, sagt Hammes. Weil sie keinen Magen haben, brauchten die Kleinen spezielles Plankton, das schwer zu beschaffen sei. Dafür seien die jungen Seehasen und Nordseeschnäpel durchgekommen, tröstet sich der Biologe.
Wer noch kleinere Tiere des Wattenmeeres sehen will, kann sich ans Mikroskop begeben. Seine Schulklasse führt Ausstellungsleiter Meurs statt zu den allgemein zugänglichen Mikroskopen zum Labor in den Keller. „Wir holen die Präparate jede Woche lebendig aus der Nordsee“, sagt sein Pressesprecher. Eine „Erlebnisausstellungspädagogin“ sei nur dafür da, Schülern die Biologie der Nordsee zu vermitteln.
Neu im Meereszentrum ist ein Pottwalskelett: das Knochengerüst eines Tieres, das 1997 vor Dänemark strandete. Helfer des Multimar entfernten das Fleisch von den Knochen. Den stinkenden Rest versenkten sie in der Ostsee, um ihn von Mikroorganismen polieren zu lassen. Aus dem Knochenhaufen ist ein fast vollständig aufgebautes Walskelett geworden. Im Winter soll das Walhaus fertig sein. Besucher werden unter dem Skelett, das um eine Plastikhalbschale für den Körper ergänzt sein wird, durchgehen und sich klein fühlen können.
Während das Walhaus auf die Schutzbedürftigkeit des einzigen Wals der Nordsee, des Schweinswals, hinweisen soll, wurde ein anderer Nordsee-Bewohner ausgespart: der Seehund. Um ihn kümmert sich seit 1985 die „Seehundstation Friedrichskoog“, eine drei viertel Autostunde von Tönning. Die Station arbeitet nach dem gleichen Präsentationskonzept. Die Ausstellung ist viel kleiner als im Multimar, macht aber nur einen Teil der Station aus, die sich auch um die Erforschung der Seehunde und die Aufzucht von Heulern, verlassenen Seehund-Babys, kümmert. Vier dauernd in der Station lebende Seehunde können aus der Nähe, über und unter Wasser beobachtet werden. Sie plantschen und sonnen sich, und manchmal geben sie der Stationsleiterin Tanja Rosenberger beim Gesundheitscheck auch die Patscheflosse.
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