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Vom Poeten, der fliegen wollte

taz-serie „Berliner Bergwelt“: Hier reifen keine Träume. Der Fliegeberg in Steglitz erhebt sich auf eine Höhe von 15 Metern. Otto Lilienthal ließ diese frühere Abräumhalde 1894 zu einer Absturzrampe für seine Flugversuche aufschütten. Und er flog

Lilienthal ist noch Vogelmensch: Ein „Vertreter des Ikaridentraumes“ … … „mit künstlichen, an seinen Armen befestigten Flügeln“ will er fliegen

von PHILIPP GESSLER

„O, sieh’, welche Wonne hier oben uns blüht, / Wenn kreisend wir schweben im blauen Zenith, / Und unter uns dehnt sich gebreitet / Die herrliche, sonnenbeschienene Welt, / Umspannt vom erhabenen Himmelsgezelt, / An dem nur Dein Blick uns begleitet!“

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Was muss das für ein Mensch gewesen sein!? Was wies darauf hin, dass er eines Tages solche Zeilen zu Papier würde bringen würde? Der Flugpionier Otto Lilienthal (1848–1896) besucht eine Gewerbeschule in Potsdam, macht ein Praktikum in einem Berliner Maschinenbauunternehmen und wird ausgebildet in der Königlichen Gewerbeakademie der Hauptstadt. Als „Einjährig-Freiwilliger“ kämpft er im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und nimmt als Gardefüsilier an der Belagerung von Paris teil. Nach dem Krieg findet er eine Anstellung bei einer Maschinenbaufirma in Berlin, wird Konstruktionsingenieur bei einer anderen und reicht ein Patent für eine Schrämmaschine für den Bergbau ein.

Lilienthal wird selbst Unternehmer. Er gewährt seinen Arbeitern, geradezu revolutionär für seine Zeit, eine 25-prozentige Beteiligung am Gewinn seiner Maschinenbaufabrik. Ein Naturwissenschaftler, ein Techniker, ein Erfinder, ein gewiefter Kapitalist und PR-Profi war Lilienthal – und schrieb doch in seinem 1889 erschienen Standardwerk „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ im Anschluss an 37 Kapitel über Grundprobleme des Fliegens übergangslos nach nüchtern-physikalischer Analyse des Vogelflugs ein Gedicht: darüber, wie schön Störche den Flug erleben.

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Der Fliegeberg in Steglitz erhebt sich auf eine Höhe von 15 Metern. Die künstlich angelegte Anhöhe hat eine Hangneigung von 30 Grad. Der Fliegeberg, auch „Flughügel“ genannt, entstand im Jahr 1894, als Lilienthal diese frühere Abräumhalde einer Ziegelei für 5.000 Mark zu einer Absturzrampe für seine Flugversuche aufschütten ließ. „Lilienthal Gedenkstätte“ heißt der Ort heute. Zwischen geschnittenen Hecken und ein paar roten Bänken liegt ein grünlich-trüber Teich vor dem Hügel. Genau 74 Stufen geht es hinauf zu einem Denkmal auf der Spitze. Vier Steinbänke sind um eine metallene Erdkugel auf einem Podest gruppiert. Die Bänke sind überdacht mit einer Rotunde, über dem Globus strahlt nur der blaue Himmel an diesem Sommertag.

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Uns trägt das Gefieder; gehoben vom Wind / Die breiten, gewölbten Fittiche sind; / Der Flug macht uns keine Beschwerde; / Kein Flügelschlag stört die erhabene Ruh’. / O, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch Du? / Wann löst sich Dein Fuß von der Erde?“

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In die Zeit von 2350 bis 2150 vor Christus wird die älteste bekannte bildliche Darstellung eines Menschenfluges datiert. Zu finden ist sie auf einem etwa vier Zentimeter hohen Siegelzylinder der vorderasiatischen Sammlung des Pergamonmuseums. Rollt man den Zylinder in frischem Ton ab, wird ein Relief sichtbar: Es zeigt den auf einem Adler reitenden Hirten Etana. Der alte Traum vom Fliegen ist in den Sagen und Legenden höheren, fremden Wesen vorbehalten, Hexen auf ihren Besen, Göttern, Engeln. Stets barg der Flug etwas Mystisches, ja Verbotenes. Und wer es dennoch wagte, wie die Vögel zu fliegen, wurde leicht wegen Übermut bestraft wie Ikarus. Weil er der Sonne oder dem Himmel zu nahe kam.

Dennoch flogen schon vor Lilienthal Menschen – in Gefährten, die das Prinzip „leichter als Luft“ nutzten wie die Gebrüder Montgolfier ab 1783. Lilienthal versuchte sich an dem anderen Prinzip „schwerer als Luft“: Nach dem Vorbild der Vögel wollte er fliegen: „Auf den ersten Blick“, schreibt Bernd Lukasch, Direktor des Otto-Lilienthal-Museums Anklam in Mecklenburg-Vorpommern, sei auch Lilienthal „noch Vogelmensch“: Ein „Vertreter des ‚Ikaridentraumes‘, der mit künstlichen, an seinen Armen befestigten Flügeln“ fliegen wollte. Und flog.

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Oma: „Schöne Luft hier oben.“

Enkel: „Das Dach ist auf.“

Oma: „Schön hier oben.“

Enkel: „Ja. (steigt aufs Geländer) Opa! Opa! Hallohallohallohallohallo!“

Oma: „Pass auf, dass du nicht fällst.“

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„Doch treibt Dich die Sehnsucht, im Fluge uns gleich / Dahinzuschweben, im Lüftebereich / Die Wonnen des Flug’s zu genießen, / So sieh unsern Flügelbau, miß unsre Kraft, / Und such aus dem Luftdruck, der Hebung uns schafft, / Auf Wirkung der Flügel zu schließen.“

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Lilienthal wurde im Revolutionsjahr 1848 in Anklam geboren. Schon am dortigen Gymnasium beginnt er mit Vogelstudien, ausdauernd beobachtet er den Flug der Störche, kommt auch in seinen Werken immer wieder auf diese frühe Anschauung zurück: „Fast möchte man dem Eindrucke Raum geben, als sei der Storch eigens dazu geschaffen, um in uns Menschen die Sehnsucht zum Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser Kunst zu dienen“, schreibt er.

Lilienthal nähert sich dem Flugphänomen zunächst auf naturwissenschaftlich-physikalischer Ebene. Erst nach jahrelangen systematischen Experimenten zu Luftkräften mit Flugmodellen und mit Drachen, erst nach 20 Jahren auch theoretischer Arbeit zum Vogelflug, unternimmt er 1890 erste Versuche mit „manntragenden Flugapparaten“. Ein Jahr später gelingen ihm Flüge über 25 Meter in Derwitz/Krilow bei Potsdam. In den Rhinower Bergen bei Neustadt (Dosse) gelingen ihm 1893 erste Gleitflüge bis zu 250 Meter. Im gleichen Jahr schwebt Lilienthal vom „Fliegeberg“. Er nutzt die gerade entwickelte „Schnell- und Augenblicksfotografie“, um die Erfolge mit seinen selbst entwickelten Fluggeräten zu dokumentieren. Erhalten sind 137 Fotografien – wahrscheinlich fast alle, die je geschossen wurden.

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Es ist still hier oben. Von fern dringt das Brummen von Bussen, ein wenig Kindergeschrei, das Ploppen eines nahen Tennisplatzes. Der metallene Globus ist übersät mit Graffiti, die Bänke sind mit silberner Farbe voll gesprüht. Vögel zwitschern. Lilienthal könnte hier nicht mehr fliegen: Das Gelände ist gesäumt von hohen Bäumen, dahinter Einfamilienhäuser. Nur oben, Richtung Himmel, ist noch Raum.

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„Dann forsche, was uns zu tragen vermag / Bei unserer Fittige mäßigem Schlag, / Bei Ausdauer unseres Zuges! / Was uns eine gütige Schöpfung verlieh’n, / Draus mögest Du richtige Schlüsse dann zieh’n, / Und lösen die Rätsel des Fluges.“

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Lilienthal unternimmt mit seinen Fluggeräten rund 2.000 Gleitflüge. Immer wieder entwickelt er neue Maschinen, verbessert bestehende. Bei einem Flugversuch am 9. August 1896 stürzt Lilienthal mit dem von ihm entwickelten „Normalsegelapparat“ ab. Es ist nicht der erste Sturz. Schon 1894 hatte er einen Fall aus 20 Metern Höhe mit nur leichteren Blessuren überlebt. An diesem 9. August aber erfasst ihn eine Sturmböe am Gollenberg in Stölln. Die Aussteuerung gelingt ihm nicht. Der verletzte Lilienthal wird nach Berlin gebracht, wo er am 10. August stirbt. „Opfer müssen gebracht werden“, sollen seine letzten Worte gewesen sein.

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Enkel: „Opa, kommst du mit auf die Kugel?“

Opa: „Nein!“

Oma: „Da möchtest du sitzen?“

Enkel: „Ja.“

Oma: „Aber fall nicht runter.“

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„Die Macht des Verstandes, o, wend sie nur an, / Es darf dich nicht hindern ein ewiger Bann, / Sie wird auch im Fluge Dich tragen! / Es kann deines Schöpfers Wille nicht sein, / Dich, Ersten der Schöpfung, dem Staube zu weih’n, / Dir ewig den Flug zu versagen!“

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Erahnte Lilienthal seinen Tod? Dachte er hier oben an ihn? Wie ein Vermächtnis klingt eine Rede, die Lilienthal Ende 1894 hielt: „Zum Schluss möchte ich Sie noch bitten, das von mir Erreichte nicht für mehr zu halten, als es an und für sich ist. Auf den Fotografien, wo Sie mich hoch in der Luft dahinfliegen sehen, macht es den Eindruck, als wäre das Problem schon gelöst. Das ist durchaus nicht der Fall. Ich muss bekennen, dass es noch sehr vieler Arbeit bedarf, um dieses einfache Segeln in den dauerhaften Flug des Menschen zu verwandeln. Das bisher Erreichte ist für den Flug des Menschen nichts anderes, als die ersten unsicheren Kinderschritte für den Gang des Mannes bedeuten.“ Würden wir erwachsen geboren – es gäbe keinen Fortschritt.

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