piwik no script img

Die zweite Chance

Nach dem knappen Sieg für Rot-Grün setzt das große Stühlerücken ein: Grüne spekulieren auf ein viertes Ministerium. Müntefering soll Fraktionsvorsitzender der SPD werden. Angela Merkel drängt Fraktionschef Friedrich Merz aus dem Amt

BERLIN taz ■ Was nur die wenigsten erwartet hatten, ist seit gestern Morgen Fakt: Deutschland wird weiterhin rot-grün regiert – wenn auch nur mit knapper Mehrheit. SPD und Grüne verfügen über 306 Mandate im Parlament, Union und FDP über 295, die PDS hat nur 2 Abgeordnete. Am Wahlabend hatte Kanzlerkandidat Edmund Stoiber die Union zum Sieger der Wahl ausgerufen – und sich zu früh gefreut. Die SPD ist wieder die stärkste Fraktion im Bundestag.

Rot-Grün will die Koalitionsverhandlungen flott über die Bühne bringen. Das liegt auf Linie: Im Wahlkampf waren Gerhard Schröder und Joschka Fischer gemeinsam aufgetreten, anders als 1998 hatten beide Parteien für Rot-Grün geworben. Ziemlich klar scheint zu sein, dass die deutlich stärkeren Grünen nicht drei, sondern vier Ministerposten bekommen werden. Weil Justizministerin Herta Däubler-Gmelin nach ihrem Bush-Hitler-Vergleich erwartungsgemäß ihren Verzicht auf einen Kabinettsposten ankündigte, waren schnell Gerüchte über eine grüne Nachfolgerin zu hören. Aber auch ein veränderter Ressortzuschnitt ist nicht aus der Welt.

Neuer Fraktionschef soll nach Schröders Willen der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering werden. Die Berufung ist ein klares Signal: Müntefering, in SPD-Kreisen „General“ genannt, soll dafür sorgen, dass die Regierungsmehrheit ungefährdet bleibt. Fraktionsvize Michael Müller wehrte sich indes gestern gegen Schröders Anordnung und meinte, dass die Wahl Münteferings längst noch „keine abgemachte Sache“ sei. Offenbar eine erste kleine Machtprobe zwischen Fraktion und Regierung. Der Parteienforscher Franz Walter sagte im taz-Interview, dass Kanzler Schröder angesichts der knappen Mehrheit noch autoritärer mit den rot-grünen Parlamentariern umspringen werde als in den letzten vier Jahren.

Bei der Union ließ sich Edmund Stoiber, nicht unfroh, wieder zu Hause zu sein, in München von der CSU feiern. Bei der CDU wurde gestern Mittag die Machtfrage geklärt. Angela Merkel boxte den Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz gegen dessen Widerstand aus seinem Amt. Merkel gilt nun nach Stoibers Niederlage als die zentrale Figur in der Union. Gestern wurde bereits über ihre Ambitionen für 2006 spekuliert.

Obwohl Däubler-Gmelin nicht mehr Ministerin wird, scheint die Bush-Regierung wegen der rot-grünen Kritik am Irakkrieg demonstrativ weiter zu schmollen. Bis gestern Nachmittag hatte George W. Bush Schröder noch nicht gratuliert. „Wir sagen erst einmal geflissentlich nichts, das sind die Anweisungen“, sagte ein Regierungsbeamter. Eine endgültige Entscheidung, wie mit dem Wahlergebnis umgegangen werden solle, sei noch nicht gefallen. Der Beamte wies darauf hin, dass es sich um ein äußerst ungewöhnliches Verhalten der USA handele. Normalerweise werde zumindest eine Standardgratulation an Wahlsieger in demokratischen Staaten geschickt.

Zusätzlich zu dieser diplomatischen Regelverletzung warf US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Bundeskanzler Schröder vor, das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA „vergiftet“ zu haben. Rumsfeld weigert sich nach wie vor, beim heute beginnenden Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Warschau Bundesverteidigungsminister Peter Struck zu treffen. Aus der antideutschen Haltung scherte indes der demokratische Senator Joseph Biden aus. Er sagte, im Kern „sind die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland solide“.

Der US-Angriff auf den Irak soll, so der kanadische Außenminister Bill Graham, Ende Februar beginnen. Gerhard Schröder und Joschka Fischer machten indes gestern klar, dass eine rot-grüne Regierung weiter gegen einen Krieg gegen den Irak ist – auch mit UN-Mandat. „Das gilt in der Substanz vor der Wahl und nach der Wahl“, sagte Joschka Fischer.

STEFAN REINECKE

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen