: Ein bisschen Schulden machen
Bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin setzt sich die Meinung durch, dass sklavisches Festhalten am Euro-Stabilitätspakt „wenig kreativ“ sei
aus Berlin ULRIKE HERRMANN
Sieben Stunden haben die rot-grünen Koalitionäre miteinander gerungen, doch ergebnislos: Das Plenum trat gestern Abend gar nicht erst zusammen, weil die Fachgruppen vorher gescheitert waren. „Wir haben einen erheblichen Klärungsbedarf, was das Geld angeht“, räumte der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering ein. Und auch für die Laufzeiten des AKW Obrigheim fand sich keine Lösung (siehe unten). Aber natürlich durfte von einem Scheitern keine Rede sein. Strahlend verkündete Müntefering, dass der Koalitionsvertrag wie geplant am Mittwoch unterzeichnet werde. Allerdings sagt es schon alles über die Stimmung bei Rot-Grün, dass diese Versicherung nötig wurde.
Um seinen Optimismus zu untermauern, freute sich Müntefering, dass es in einigen finanziellen „Einzelbereichen“ bereits „Festlegungen“ gebe. Und in der Tat hatte es am Wochenende zunächst nach Fortschritten ausgesehen. Denn immerhin machten sie recht deutlich, wie einsam sich Finanzminister Hans Eichel (SPD) fühlen darf. Der selbst ernannte Sparkommissar ist der Einzige, der noch kompromisslos an den Euro-Stabilitätspakt glaubt.
Seine Genossen hingegen wollen nicht mehr streng daran festhalten, dass das gesamtstaatliche Defizit nicht mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen darf. Am Samstag verlagerte Müntefering schlicht die Prioritäten: „Oberstes Ziel ist es, dass die Finanzpolitik beiträgt, Wachstum zu schaffen.“ Schulden sind also erlaubt, falls sie die Wirtschaft beleben.
Dieser neue SPD-Kurs ist auch ein Sieg der Grünen, die schon seit Tagen bemängeln, dass der rigide Sparkurs von Hans Eichel „wenig kreativ“ sei. Nun ist also „eine gewisse Flexibilität“ angesagt, wie Grünenchef Fritz Kuhn es diplomatisch nannte. Offiziell wird zwar daran festgehalten, dass der Gesamthaushalt bis 2006 ausgeglichen sein soll, doch der Weg ist nicht mehr vorgeschrieben. Bisher wollte Eichel die Neuverschuldung ab 2003 starr um jährlich rund 5 Milliarden Euro senken.
Der TU-Professor Gert Wagner fand es gestern „vernünftig“, sich nicht mehr sklavisch an die Euro-Stabilitätskriterien zu halten: „Sparen würgt das Wachstum ab.“ Allerdings fürchtet der Konjunkturexperte, dass eine nächste Wachstumsphase nicht genutzt werden könnte, um Defizite zu tilgen. Aber von einer „weiteren mechanischen Lösung“ riet der Professor gegenüber der taz ebenfalls ab: „Die Drei-Prozent-Klausel ist ja erkennbar gescheitert.“ Er schlug daher ein Verfahren vor, das an Gruppentherapie gemahnt: nämlich „das permanente Gespräch“ zwischen den Europäern.
Eines steht fest: Im Haushaltsjahr 2003 fehlen mindestens 10 Milliarden Euro. Als eine seiner einzelnen „Festlegungen“ kündigte Müntefering daher am Samstag „eine faktische Mindestbesteuerung für große Unternehmen“ an. Denn 2001 mussten die Finanzämter 500 Millionen Mark Körperschaftssteuer zurückzahlen – und auch in diesem Jahr ist nicht mit Erträgen zu rechnen.
Allerdings blieb etwas wolkig, wie die Unternehmen zur Kasse gebeten werden. Müntefering nannte „eine Begrenzung der Verlustvorträge“. Klar ist immerhin, was ein Verlustvortrag ist: Es sind jene Miesen der vergangenen Jahre, die in den Unternehmensbilanzen „aufbewahrt“ werden dürfen, um sie mit späteren Gewinnen zu verrechnen. Unklar hingegen ist, was mit dem Wörtchen „Begrenzung“ gemeint sein könnte. Zwei Varianten sind denkbar: Die Verlustvorträge könnten entweder zeitlich befristet werden, oder aber sie sind nicht mehr in beliebigem Umfang anrechenbar, so dass immer ein Teil des aktuellen Gewinns zu versteuern wäre.
Und eine zweite „Festlegung“: Müntefering kündigte einen „verstärkten Kampf gegen Steuerhinterziehung“ an. Dahinter verbirgt sich, wie SPD-Steuerexperte Joachim Poß gestern für die taz übersetzte, „die Abschaffung des § 30a der Abgabenordnung“. Der Normalbürger nennt das „Bankgeheimnis“.
Es verhindert bisher, dass die Banken den Finanzämtern automatisch mitteilen, ob ihre Kunden bei Aktienverkäufen Spekulationsgewinne eingefahren haben. Ergebnis: Höchstens 5 Prozent aller Anleger geben ihre Kursgewinne an. In einem Musterprozess hat der Bundesfinanzhof daher im Juli erklärt, dass er die aktuelle Besteuerung der Spekulationsgewinne für „verfassungswidrig“ hält. Das Motto „Der Ehrliche ist der Dumme“ verletze das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes. Genau dieses Argument vertrat auch der Bundesrechnungshof im April. Aktienbesitzer können sich also schon darauf einstellen, dass sie demnächst Steuern zahlen müssen.
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